Für einen kulturellen Austausch

Zur Debatte über kulturelle Aneignung

Die Kolonialherren in Afrika trugen gerne Weiß, nicht nur, um sich gegen die Hitze zu schützen. „Diese Dresscodes können auch symbolisch gedeutet werden: von ,Ich habe weiße Handschuhe an und das zeigt, dass ich nicht körperlich arbeiten muss‘ bis hin zu ,Ich habe eine weiße Weste an‘.“ Das Foto stammt aus dem Deutschen Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven. Fotocredit: Unbekannter Fotograf: Kamerun, in: Fotosammlung - Deutsche Kolonien in Afrika, ca. 1900 ©Archiv DSM

Autorin: Katja Vaders
In der Mode sind bereits seit Hunderten von Jahren Zitate aus anderen Kulturen gern genutzte Inspiration für Designer. Seit geraumer Zeit schlägt jedoch vor allem in den sozialen Medien das Thema „kulturelle Aneignung“ immer größere Wellen. FT sprach mit Prof. Dr. Marina-Elena Wachs, Professorin für Designtheorie im Fachbereich Textil- und Bekleidungstechnik an der Hochschule Niederrhein, über die historische Einordnung der Einflüsse anderer Kulturen auf die westliche Mode sowie die Möglichkeiten für einen respektvollen Umgang mit diesem aktuell so brisanten Thema.

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FT: Frau Wachs, wie ordnen Sie Einflüsse fremder Kulturen auf die Mode historisch ein? Ab wann und von welchen Kulturen begann man, sich beeinflussen zu lassen?
Marina-Elena Wachs: „Lassen Sie mich zunächst sagen: Ich würde den Begriff der ,fremden‘ Kultur gern auch unter dem Aspekt der ,andersartigen‘ sehen wollen: eine andere Perspektive einzunehmen und in anderer Art als der eigenen, vertrauten zu agieren. Dieser bewusste Umgang mit dem Wort des ,Fremden in einem kulturellen Austausch‘ ist für mich von Bedeutung. Wenn ich nun zurückkomme auf Ihre Ausgangsfrage: Für meine Begriffe hat der Einfluss von andersartiger Kultur mit Reisen, Warenaustausch, Eroberungen, dem Kennenlernen anderer Kulturen seinen Anfang genommen. Zunächst aus Neugier als Triggerpunkt und nicht mit Machtanspruch und Ausbeute, wie es heute schnell im Feld der ,kulturellen Aneignung‘ kritisch diskutiert wird. Es war und ist inzwischen wieder ein Privileg für bestimmte Gruppen, zu reisen, sich das Reisen in andere Kulturen leisten zu können. Das ist nicht nur eine Frage der finanziellen Möglichkeiten. Auch aus Gender-Aspekten ist es manches Mal nicht einfach, in andere Kulturen physisch einzutauchen. Wie gelingt nun dieses Einfühlen, Eintauchen in eine andere Kultur? Zum Beispiel kann man sich in Ausstellungen und Museen in die Objekte und Designs anderer Kulturen einfühlen, wie ich es zusammen mit Studierenden der Hochschule Niederrhein mache.“

Wie sieht dieses Einfühlen, Eintauchen aus?
„Das bedeutet zum Beispiel, Objekte der Kunstkammer-Schätze visuell und zeichnend abzugreifen; die Objekte aus Kolonien aus Materialien wie Kokosnuss und Elfenbein zu analysieren, zu hinterfragen, zu diskutieren hinsichtlich der nachhaltigen Thematik, die uns heute auch in der Mode beschäftigt. Produktsprachen sind immer kontextabhängig in der jeweiligen Zeit, Form, Linienführung, Silhouette, Farb- und Oberflächengestaltung. Die Kunstkammer-Schätze, die wir in ganz Europa in den Museen finden und die häufig der Anfang der Sammelleidenschaft und der Museen-Sammlungen waren, gehen ja auf die Reisen einzelner privilegierter Menschen zurück, die aus unterschiedlichen Perspektiven die Objekte mitbrachten. Dabei sind die Aspekte bedeutsam, dass sie ein Geschenk, also Ausdruck der Wertschätzung, aber auch ein Statement für die handwerklichen Preziosen und technischen Möglichkeiten waren. Und das sind nur zwei Faktoren, wie Mode mithilfe anderer kultureller Einflüsse geprägt wurde. Sie wurde vor allem in der Renaissance-Zeit und entsprechend auch im Sprachlichen weiterentwickelt, indem ,Modus‘ (lateinisch), die ,Machart‘ von Dingen, übertragen wurde in die Art, wie wir uns kleiden. Zu diesem Phänomen können Sie im kommenden Jahr zum Beispiel in meinem nächsten Buch im Kapitel zu Textil- und Mode-Theorie vertiefend lesen.“

Mit dem heutigen Blick wirkt das Verständnis von „kulturellem Austausch“ der Kolonialherren sehr befremdlich. Für einen wirklich gemeinsamen kulturellen Austausch müssen sich alle Beteiligten vor allem auf Augenhöhe sowie gemeinsam und mit Respekt begegnen. Foto stammt aus dem Deutschen Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven. Fotocredit: Unbekannter Fotograf: ohne Beschriftung, in: S.M.S. BUSSARD, 1895 – 1896 © Archiv DSM

Warum bediente sich die westliche Welt an fremden Kulturen? War dies vor allem durch Reisen oder eher in der Besatzung von Ländern beziehungsweise durch den Kolonialismus begründet?
„Wie oben angedeutet, überwiegen für mich eher die positiven Gründe wie Reisen, Geschenke, Import/Export und erst nachgelagert die Eroberungskriege, die uns neue handwerkliche Techniken oder die Bedeutung von Ornamenten aus fremden Kulturen näherbringen und uns für das Design inspirieren. Der Begriff des ,Fremden‘ ist für mich zunächst einmal wertfrei zu deuten, das ist wichtig im Kontext der Diskussionen. Neben dem Austausch durch Reisegüter und Geschenke, aber auch Eroberungstrophäen, sind noch davor die Handelsrouten für die Einflussnahme bedeutsam, auf denen mit dem Orient besondere Accessoires, Stoffe oder Rohwaren getauscht wurden, nicht allein mit schmückender Funktion. Hierfür möchte ich beispielsweise die byzantinische Kultur nennen, mit der goldlaminierte Fäden oder auch Edelsteine nach Europa kamen. Aber auch die Narrative, die dabei von den Mosaiken in den anderen Architekturen wie Kirchenhäusern und Tempeln ausgingen, oder die Vasen aus Ton, auf denen Tuchhändler abgebildet sind und von der ,Art des Kleidens‘ zeugen, des um den Körper Drapierens, und somit für die Menschen in Europa neue Impulse setzten und zu innovativen, eigenen Experimenten mit Mode inspirierten.“

Welche Kulturen übten Ihrer Meinung nach die prägendsten Einflüsse auf die westliche Mode seit dem 20. Jahrhundert aus? Ich denke in diesem Zusammenhang insbesondere an die Zeitspannen 1920er- bis 1930er-Jahre beziehungsweise die 1960er- bis 1970er-Jahre.

„Für meine Begriffe sind zu den hier abgefragten Zeiten andere kulturelle Einflüsse von größerer Bedeutung. Das beginnt um die Jahrhundertwende mit Reformkleidern, die in Verbindung zu der vorangegangenen Suffragetten-Bewegung in Großbritannien stehen, als die sogenannten ,Humpelröcke‘ und Korsetts fielen beziehungsweise aufgebrochen wurden. Dieses Phänomen in der Mode betrifft viel mehr die gesellschaftlichen Rollenmodelle, die niedergerissen wurden, und weniger die östlichen Einflüsse. Insofern sind es europäische Interdependenzen, die vielleicht ebenso in der Mikroperspektive interessant sind und sich letztendlich auf einen kulturellen Austausch von Gastgeschenken und gemeinsame Empfänge zurückführen lassen. Beispiele werden in der sogenannten ,Türkenmode‘ des 18. und 19. Jahrhunderts (vergleiche hierzu die in Dresden herausragende Ausstellung im Jahr 1995, ,Im Lichte des Halbmonds‘) sichtbar. Das bedeutet einen Austausch von ,Stilen‘ nicht allein in der Mode und im Textil. Sicherlich sind es auch Bilder, die uns letztendlich prägen, wie in manchen Kinofilmen und Literaturverfilmungen. Beispielsweise bei Tania Blixens ,Jenseits von Afrika‘, in dem europäische Vertreterinnen und Vertreter in ,weißer Kleidung‘ in Kolonialgebieten herrschen und diese Dresscodes symbolisch gedeutet werden können: von ,Ich habe weiße Handschuhe an und das zeigt, dass ich nicht körperlich arbeiten muss‘ bis hin zu ,Ich habe eine weiße Weste an‘. Weiße und hell gefärbte Kleidung hat in warmen Ländern jedoch zunächst vor allem eine praktische Funktion, da sie Sonnenlicht reflektiert und somit verhindert, dass der Körper noch mehr aufgeheizt wird.
Heute sind weiße Kleidungsstücke ein Ausdruck im Symbolischen nicht allein für Freiheit und Feminismus, wenn Frauen wie Kamala Harris, Lady Gaga oder Jennifer Lopez im Rahmen der ,Inauguration‘ von Joe Biden im Jahr 2021 weiße Hosenanzüge trugen. Weiße Kleidung ist im Zuge der Kreislaufwirtschaftsdebatte zunehmend ein Zeichen für ,Nachhaltigkeit‘, zum Beispiel von Energiesparen bei der Färbung, wenn das Outfit seine dunkle (edle, zeitlos schwarze) Farbe nicht über 18 Stunden in einem Färbebad erhält, sondern ,einfach ungefärbt‘ daherkommt.
Ein weiterer Bezug in der Mode entsteht zum ,klassischen‘ Dresscode des ,weißen Tennis‘, wie es traditionell in den 1920er-Jahren proklamiert wurde und vor Kurzem nicht nur auf dem Tennisplatz und in der New York Times großes Kino war.“

Wie sah konkret die Einflussnahme auf die westliche Mode aus? Welche Designer setzten sie um? Und gab es in den 1920ern/1930ern beziehungsweise den 1960ern/1970ern andere Voraussetzungen für eine Art der kulturellen Aneignung oder Einflussnahme?
„Man könnte mutmaßen, dass weiße Kleidung weniger Ausdruck der kolonialen Machtausübung war, sondern eher europäische, gesellschaftliche Rollenmodelle spiegelte, die zu dieser Zeit aufbrachen: in den 1920er-Jahren mit dem neuen Bild der Frau, der Garçonne und Designerinnen wie Coco Gabrielle Chanel. Andererseits sind es auch und im Besonderen die künstlerischen, inspirierenden Einflüsse beziehungsweise die interdisziplinären, kreativen Kooperationen, wie es ganz aktuell noch einmal im Werk von Elsa Schiaparelli in Paris in der Ausstellung im Musée des Arts Décoratifs nachzuspüren ist. Oder aber auch die gelebte Kultur des Bauhauses zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die nach dem Ersten Weltkrieg einen neuen Lebensstil suchte. Aber sicherlich ist es in der Folge der Weltkriege auch die Nähe zu den Kulturen der Alliierten, der Blick in die USA zum Beispiel, die Einfluss nahm. Meiner Meinung nach sind es gerade interkulturelle Einflüsse, die in der Modehistorie wichtigen Impulse aus Frankreich, die in der Folgezeit des Zweiten Weltkriegs im sogenannten ,New Look‘ von Christian Dior zu finden sind – Heinz Oestergaard wurde der ,Deutsche Dior‘ genannt. Wir müssen zunächst das Verständnis der europäischen Produktsprachen und der westlichen textilen Interdependenzen vermitteln und damit meine ich: verstehen, lesen können, Dresscodes lernen zu interpretieren für ein Kulturverständnis – nicht allein in der Mode. Das ist Teil meiner Aufgabe im Bildungswesen, wenn ich im Fach Interkulturelles Design design- und modehistorisch relevante Thematiken aus Europa untersuchen und für nachhaltige Entwürfe transformativ nutzen lasse.“

Werfen wir einen Blick auf die zeitgenössische Mode: Ethno ist inzwischen zum gängigen Sujet geworden, durch die Globalisierung und das Internet ist zudem Mode aus anderen Kulturen für jeden jederzeit erhältlich. Wie hat dies die Mode und das Modeverständnis in den letzten 20 Jahren geprägt beziehungsweise verändert?

„Insbesondere seit den öffentlich geführten Vorwürfen an die französische Designerin Isabel Marant im Jahr 2019, sie habe ethnografische Musterungen aus Mexiko in der Form der kulturellen Aneignung für ihre Mode-Entwürfe benutzt, ohne Vertreterinnen und Vertreter des Volkes zu fragen, kam diese Debatte in der Modewelt ins Laufen. In der jüngeren Vergangenheit, im weitesten Rahmen der Gender- und Equality-Debatte und des Diversity Managements im großen Blick, ist die Frage der kulturellen Aneignung nicht allein im Rahmen von Kunstraubobjekten, die heute wieder an die kulturellen Eigentümerinnen und Eigentümer übergeben werden (Beispiel: Rautenstrauch-Joest-Museum; Sammlung höfischer Kunstwerke aus dem Königreich Benin), entflammt. Aber hier müssen wir hinschauen, wenn es um den ursprünglichen Begriff der ,kulturellen Aneignung‘ geht, der nun in der Mode nachgelagert genutzt wird.“

Wie sieht Ihrer Meinung nach dieses „Hinschauen“ aus?
„Mit meiner Perspektive aus Deutschland sind hier für meine Begriffe der besondere deutsch-französische Kulturaustausch und die Aufklärung in dem Sujet der Provenienz vor allem dank Frau Bénédicte Savoy zu nennen, die am 6. Juli 2022 den Deutsch-Französischen Medienpreis erhielt. Frau Savoy kennt beide Kulturen sehr gut: Sie hat als Professorin in beiden Ländern ein großes Verständnis für beide Seiten, sowohl für Deutschland als auch für Frankreich. Darüber hinaus insbesondere aufgrund ihres enorm großen Engagements und ihrer Forschung in Sachen Rückgabe von Kunstraubobjekten an die ehemaligen Kolonien. Frau Savoy hat sich die letzten Jahre diesbezüglich auch in der Neugestaltung der Museen des Humboldt Forums in Berlin sehr engagiert eingebracht. Ihre Doktorarbeit beschäftigt sich mit dem Thema des Kunstraubs, zu dem sie auch den Begriff der Provenienz, der Herkunftsforschung, in verschiedenen Veröffentlichungen immer wieder erläutert. Seit der öffentlichen Debatte sowohl aufseiten der Mode als auch aufseiten der Kunstwissenschaft ist im Hinblick auf Deutschland – aus meiner Perspektive – eine größere Aufmerksamkeit und somit auch Sensibilisierung für das Thema entstanden.

Andererseits erlebt man besonders bei der Verwendung von Musterungen in der Textilanwendung immer wieder einen respektlosen Gebrauch von symbolischen Ornamenten aus anderen Kulturen. Viele Kreative hinterfragen vielleicht nicht genügend die Bedeutung dieser Ornamente ,fremder‘ Kulturen und behaupten, sie nähmen das Bild, Muster, Ornament, welches sie im Urlaub in anderen Ländern entdeckten, ,nur‘ als Inspiration. Das ist gut nachvollziehbar, wir alle sind auf der Suche nach Schönheit, und in der Faszination der ästhetischen Werte verwendet man dann im Design diese ,Inspiration‘ einer anderen, unbekannten Art. Dieses ,Fundstück‘ der Inspiration wird dann weitergezeichnet, somit weiterentwickelt und verfremdet. Manchmal verletzt man damit die ,Bildrechte‘ einer Kultur. In diesem Falle können sowohl Lexika der Ornamente und der Ornamentik sowie der Symbole Hintergrundinformationen liefern wie auch Repräsentanten der Ursprungsmusterungen, um respektvoll mit diesen kulturellen Zeichen der anderen umzugehen.“

Der Begriff der „kulturellen Aneignung“ ist, auch in der Mode, zu einer Art Kampfbegriff avanciert. Wie kam es dazu, dass aus einem – zunächst einmal positiv konnotierten – Einfluss eine Aneignung geworden ist?
„Interessante Frage, ob der Begriff ,kulturelle Aneignung‘ zunächst positiv besetzt war. Meines Erachtens war die Bedeutung von ,kultureller Aneignung‘ zunächst einmal wertfrei und nach der Kulturwissenschaftlerin Helga Nowotny auch aus soziologischen Gründen vielleicht eine ,Überlebensstrategie‘, muss man doch in irgendeiner Form an die vorangegangene Kultur und unser ,Cultural Behaviour‘ andocken, um Neues in die Welt zu bringen. Künstler wie Claes Oldenburg führen uns das aus Sicht der Kunst in Form der Intervention beispielhaft vor. Indem zum Beispiel Oldenburgs ,Soft Typewriter‘ aus dem Jahr 1963 sehr schön die Formensprache, das Material und den Umgang mit einer Schreibmaschine konterkariert – seine Schreibmaschine war aus Vinyl und gefüllt mit Kapok. Jedes Mal, wenn man auf eine Taste drückte, versank man in dem weichen Material. Im Gegensatz zu der Stilikone im Design der mechanischen Schreibmaschinen, dem Modell Valentine der Firma Olivetti (Designer Ettore Sottsass und Perry A. King) aus dem Jahr 1969, bei dem die Tasten ja wieder hochspringen, wenn man diese loslässt, stellt die Kunst Oldenburgs das ,Cultural Behaviour‘ und ,Material Behaviour‘ (M. Schiffer) infrage.“

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Wie bringen Sie das in Zusammenhang mit der kulturellen Aneignung?
„Dieses ,Cultural Behaviour‘ zielt auf die kulturelle Aneignung im Umgang mit zum Beispiel textilen, handwerklichen Fähigkeiten, wie ich es an dem Werk von Max Liebermann später gern erläutern kann. Der Ausdruck der kulturellen Aneignung ist zunächst aber ganz klar im Rahmen der Provenienz-Forschung zu betrachten und somit aus der Perspektive der Kunstgeschichte und Kulturwissenschaft zu beantworten. Dieser ist geprägt von Frau Savoy und im Rahmen ihrer Forschungsarbeit (vergleiche Bénédicte Savoy, 2003, ,Patrimoine annexé: Les biens culturels saisis par la France en Allemagne autour de 1800‘, deutsche Ausgabe zu ,Kunstraub‘ im Böhlau Verlag, 2011) erweitert besetzt worden.

Insofern wird der Begriff vonseiten der Kunst und Kulturwissenschaft im originären Sinne definiert und deklariert, wo diese Kunst ursprünglich herstammt und welchen Weg sie nahm. Es ist also geografisch-kulturell bedeutsam, aber auch hinsichtlich des Urheber- und somit Gestaltungs(design-) und Nutzungsrechts von Belang. In diesem Verständnis ist der Begriff der Provenienz seitens der Berlinischen Galerie im Jahr 2020/2021 in der Ausstellung ,Provenienzen – Kunstwerke wandern‘ sehr schön – auch multimedial – dargestellt worden am Beispiel eines Kunstwerks von Max Liebermann (vergleiche: https://berlinischegalerie.de/ausstellung/provenienzen/).“

Aber Max Liebermann ist doch ein deutscher Künstler – wo sehen Sie hier einen Aspekt der „kulturellen Aneignung“?
„Liebermann ist einer der wichtigsten deutschen Künstler des Impressionismus, der übrigens auch eines der größten künstlerischen Œuvre im ,abbildenden‘ Sinne des textilen Handwerks und Textil-Erbes in Deutschland und im europäischen Kontext offeriert. Auch diese textilen, kulturellen Zeugnisse im Abbildhaften, waren vor Kurzem (2022) in der Kunsthalle Düsseldorf sehr schön zu sehen. An diesen Zeugnissen in Liebermanns Werken – es sind zum Beispiel die Sauerstoff-Bleiche von weißen Stoffen im Freien, auf dem Rasen, die Klöpplerinnen bei der Arbeit, das Spinnen und Weben am großen, raumfüllenden Webstuhl zu sehen – wird der Begriff der ,kulturellen Aneignung‘ wieder neu zu betrachten sein. In der Debatte der nachhaltigen Bildung sollten wir uns die zurzeit verschwindenden handwerklichen Techniken erneut ,kulturell bedeutsam aneignen‘.“

Was meinen Sie damit konkret?
„Ich habe diese Max-Liebermann-Ausstellung mit den angehenden Textil- und Mode-Expertinnen besucht und analysiert, wie wir uns auch im kommenden Semester eine Seilerei in Hamburg ansehen und dem Handwerk der Seiler und Reeper vertieft mit einer Übung vor Ort nachgehen werden: Das ist also Teil der ,kulturellen Aneignung‘ im positiven Sinn, ein Analysieren, Begreifen, Abgreifen im Zeichnerischen und wie wir im Experimentellen, physisch Erfahrbaren des kulturellen Erbes schulen. Es sind ebenso die Orte der Erinnerung, denen wir uns nähern wollen, um uns eben besser zu erinnern. Kulturelle Aneignung ist auch ein Bewahren des kulturellen Gedächtnisses, wozu eine aktive Diskussion gehört. Unser textiles Kulturgut und -erbe, unser textiles Technikwissen und somit unsere resiliente Textil-Wirtschaft und vieles mehr stehen zur Diskussion für die Zukunftsfähigkeit der Mode- und Textilindustrie. Das ist ein aktiver Teil unserer universitären Ausbildung und vermittelt auf reflektierende Weise Verständnis für die Urheberschaft von kulturellen Objekten, Mustern bis hin zum ,Storytelling‘, das heute die Mode- und Textilwelten auf allen drei klassischen Ebenen der Nachhaltigkeit bestimmt und vor allem bedeutsam für den Bereich des Ökonomischen ist.“

Wo ist die Grenze von der Einflussnahme zur Aneignung – wer entscheidet, was man übernehmen darf und was nicht? Und wie deckt sich das mit dem Kunstbegriff, der natürlich auch im Modedesign eine Rolle spielt?
„Die Grenzziehung bezüglich kultureller Aneignung muss eindeutig aus geografischer, ethnischer Sicht und nicht aus künstlerischen oder moderelevanten Gründen gezogen werden. Es gibt aus kulturanthropologischer Perspektive die symbolische Funktion, die symbolische Lesbarkeit der Musterungen von ethnischen Kulturgütern, die absolut respektiert werden muss. Im besten Fall sollten die Eigentümerinnen und Eigentümer ethnischer Gruppen befragt werden zur Bedeutung der Zeichensysteme, gefragt werden, ob die Bildrechte mit Nennung der Urheberrechte im gestalterischen Prozess verwendet werden dürfen. Optimalerweise sollte eine Kooperation mit Nennung beider Seiten stattfinden. Das wäre mit dem heutigen Wissen eine ,Win-win-Situation‘ in einer gelebten nachhaltigen Mode- und Textilindustrie und hat, im weitesten Sinne, etwas mit nachhaltiger Kreislaufwirtschaft zu tun.“

Ein Schlusswort: Wie wünschen Sie sich den wissenschaftlichen, aber auch gesellschaftlichen Diskurs zu diesem Thema? Und wie führen Sie diesen Diskurs an der Hochschule Niederrhein?
„Empathie ist eine wichtige Kompetenz im Business und somit auch das Verstehen und Respektieren andersartiger Cultural Codes, die sich durch Designobjekte, Mode-Musterungen, textile Strukturen und Gefüge ausdrücken; essenziell, um die Welt zu verstehen und die Welt von morgen resilient mitzugestalten. Ich tausche mich schon seit vielen Jahren mit Kolleginnen und Kollegen in Europa aus, zum Beispiel mit meinem Kollegen Ashley Hall vom Royal College of Art in London, mit dem ich im Jahr 2019 sowohl in Deutschland als auch in London interdisziplinäre Workshops veranstaltet habe. Immer sind dabei auch die geografischen und historischen Kontexte von Bedeutung, die wir cross-cultural vermitteln für ein Verständnis im Interaction Design von morgen. Ich arbeite mit meinen Kolleginnen und Kollegen an der Hochschule Niederrhein auch daran, die Medien vorzuhalten, die wir für diesen interaktiven Austausch in der Wissenschaft in Europa und der Welt benötigen: digitale Boards, innerhalb derer wir zeitgleich in Deutschland, Großbritannien, Schweden oder Frankreich mit anderen jungen Studierenden sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern arbeiten können, um ein kulturelles Verständnis und Integration in Entwurfsprozessen, aber auch für die Objekt- und ,Zeichen‘-Kultur zu schaffen. Und mit diesen Zeichen, den Design-Codes, sind wir wieder bei dem Verständnis für einen sensiblen Umgang mit den kulturellen Zeichen des anderen aus einer zunächst ,fremden Kultur‘.“

Was wünschen Sie sich persönlich für diese Debatte?
„Ich wünsche mir, dass wir die Debatte der möglichen ,kulturellen Aneignung‘ nicht nur schriftlich führen, sondern dass wir wieder mehr Face to Face zusammenkommen, um am dreidimensionalen Objekt im Raum, im geografischen, besonderen Raum, die Kultur der anderen zu verstehen und respektvoll mit der Faszination des Bildes der anderen umgehen zu lernen. Wir sollten die ,andere Art der Kultur‘ im Gespräch kennenlernen und die Diversität in ,Sprachen‘ wertschätzen, nicht allein, ob ich Französisch, Deutsch oder Kreolisch spreche, sondern ob ich mich mit Formen, Linien, Texturen, Licht oder Tönen ausdrücke. All das benötigt eine ebenso holistische Bildung und Freiraum, wieder mehr künstlerische, physisch erfahrbare Experimente neben den in den letzten Jahren sehr geförderten MINT-Fächern. Wir benötigen die Expertinnen und Experten der ,Complex Problem Solvers‘ in der Mode- und Textilindustrie, wie ich es in meinem in diesem Jahr erschienenen Buch zum ,Design Engineering‘ der Zukunft darstelle; und diese Talente benötigen neben Fachverständnis diverse andere Kompetenzen, mit denen ein sensibles Kulturverständnis und ein gemeinsames(!) Experimentieren einhergehen. Für dieses interaktive, cross-cultural Experimentieren innerhalb eines gemeinsamen kulturellen Austausches wünsche ich mir noch mehr ,Togetherness‘, wie Richard Sennett es nennt, seitens verschiedener Interessenvertreterinnen und Interessenvertreter.“

Ich danke Ihnen für diesen sehr interessanten Austausch!

Prof. Dr. phil. Dipl.-Des. Marina-Elena Wachs ist Schneidermeisterin, Industriedesignerin und Professorin für Designtheorie im Fachbereich Textil- und Bekleidungstechnik an der Hochschule Niederrhein. 2007 promovierte sie an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig mit ihrer Dissertation „Material Mind – Neue Materialien in Design, Kunst und Architektur“, die im Verlag Dr. Kovač veröffentlicht wurde.

Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte sind interdisziplinäre Projekte im nachhaltigen Design, Textiltechnik in interkulturellen Lernlandschaften und „Zukunft skizzieren: Design und Kinder“. Unlängst erschien Marina-Elena Wachs‘ aktuelles Buch „Design Engineering –sustainable and holistic“ im avedition Verlag.