Autor: Markus Oess
Die Mitte der Gesellschaft wird nicht mehr von einer homogenen Gruppe besetzt, sondern von vielen. „Die Gesellschaft ist in sich vielschichtiger, heterogener geworden. Und alle tragen ihren eigenen Kleidungsstil“, sagt KATAG-Chef Dr. Daniel Terberger. Was heißt das für die Mitgliedshäuser der Bielefelder KATAG AG?
Herr Dr. Terberger, das Motto der diesjährigen Cheftagung lautet „Lifestyle – Aufbruch in neue Welten“. Was bedeutet das für Ihre Mitgliedshäuser?
Dr. Daniel Terberger: „Es bedeutet, dass die Welt nicht stehen bleibt und die Planbarkeit nicht mehr in dem Maße gegeben ist, wie es vielleicht früher der Fall war. Natürlich müssen Sie auch heute noch Pläne erstellen und abarbeiten, aber Sie müssen die Szenarien, die Sie entwickeln und aus denen Sie diese Planungen ableiten, ständig auf ihre Richtigkeit überprüfen. Und es bedeutet, dass die analoge und die digitale Welt in ihrer Entwicklung Richtungen einschlagen können, die nicht unbedingt vorhersehbar sind. Das gilt sowohl für den Lifestyle an sich als auch die zugrunde liegenden, handelsorientierten, zahlenmäßigen Szenarien.“
Lifestyle ist auch eine Attitüde, mit der sich die Menschen zu einer bestimmten Gruppe zugehörig fühlen und dies in ihrer Kleidung zum Ausdruck bringen, sie grenzen sich damit aber auch gleichzeitig gegenüber anderen Gruppen ab. Was heißt das für den Markt der Mitte?
„Die Mitte des Marktes wird nicht mehr von einer homogenen Gruppe besetzt, die in ihren Lebenspräferenzen eine hohe Schnittmenge und gesellschaftlichen Konsens aufweist. Heute haben wir stattdessen viele kleinere Gruppen in der Mitte der Gesellschaft. Eine alleinerziehende, modeinteressierte Mutter muss nicht zwangsläufig die gleichen Interessen und den gleichen Geschmack haben wie die Frau, die in einer größeren Familie lebt. Auch die Männer, die den gleichen Beruf ausüben und vielleicht noch gleich alt sind, müssen nicht sofort den gleichen Geschmack, die gleichen Lieblingsmarken haben, weil sie sich zum Beispiel in völlig unterschiedlichen Lebenssituationen befinden und andere Freizeitinteressen ausleben. Die Gesellschaft ist in sich vielschichtiger, heterogener geworden. Und alle tragen ihren eigenen Kleidungsstil.“
Auf der letztjährigen Tagung sagten Sie: „Besser ist fertig als perfekt.“ Mit Blick auf das diesjährige Tagungsmotto –womit sollten die Händler zuerst anfangen?
„Sie dürfen auf keinen Fall ihre digitale Präsenz vernachlässigen, sondern im Gegenteil ganz dezidiert und gezielt umsetzen. Auch das digitale Profil muss individuell sein und nicht alle möglichen Leistungen umfassen. Sie sollten zweitens ihre Mitarbeiter an die Themen der Zukunft in der analogen und digitalen Welt heranführen. Und sie sollten drittens ganz konkret Events in ihren Häusern mit den Menschen vor Ort umsetzen.“
KARSTADT-Chef Dr. Stephan R. Fanderl spricht im Zusammenhang mit dem Warenhaus von der Renaissance der Department Stores. Hat er vieles richtig gemacht oder einfach nur Glück gehabt?
„Glück ist eine Funktion aus viel Fleiß und Arbeit im Kleinen. Das Glück kommt nicht einfach angeflogen. Natürlich hat das Unternehmen in der jüngeren Vergangenheit einiges richtig gemacht, aber der Erfolg ist sicher kein Produkt des Zufalls. Der stationäre Handel und auch das Warenhaus haben ihre Marktberechtigung. Aber Tatsache ist auch, dass sich der Markt und die Menschen verändern und sich der Handel auf diese Veränderungen schneller als früher einstellen muss.“
Die zurückliegende Tagung war noch stark von dem Thema Digitalisierung geprägt. Heute stand die analoge Welt im Mittelpunkt. Hat sich die strategische Sicht auf die Digitalisierung verändert?
„Weder für die analoge noch für die digitale Welt gibt es ein Patentrezept. Da spielen ganz individuelle Faktoren eine Rolle. Unsere Partnerfirmen verstehen es hervorragend, die individuelle Karte auszuspielen. Jedes Haus ist anders und das ist gut so. Aber das sollte auch im digitalen Bereich so sein. Jeder Händler muss sich genauso ein unverkennbares digitales Profil schaffen, egal ob er dabei zum Beispiel auf die Themen Click &Collect setzt, auf das digitale Schaufenster oder auf Mobile Payment. Das digitale Gesamtkonzept muss stimmig sein, aber er muss dafür nicht alles umsetzen, was derzeit im Markt angeboten wird.“
New World
Bei Lost World geht es darum, Dinosaurier zum Leben zu erwecken – für den Nervenkitzel der Besucher. Auf der Cheftagung geht es zwar auch um Altes, nämlich die Urtugend des Handels, „Kenne deine Kunden“. Doch wie soll die gemeinsame Reise in neue Welten gelingen, in Zeiten, in denen die Erde nicht stehen bleibt und die Planbarkeit nicht mehr in dem Maße gegeben ist, wie es vielleicht früher einmal der Fall war?Einen Königsweg gibt es nicht, aber die alte Erkenntnis, dass der Mensch im Mittelpunkt des Geschehens stehen sollte.
Der Handel, sagt KATAG-Chef Dr. Daniel Terberger, befinde sich in einer schwierigen Lage. Wieder mal. Denn während die Konjunktur brumme, tuesich im Modehandel herzlich wenig. Und, so der Tenor, es sei an der Zeit nachzulegen. Der Handel müsse in Technologie investieren. Doch müsse das nun nicht heißen, gleich alles mitzumachen. Die Antwort auf die bevorstehenden Herausforderungen könnenicht heißen alles und jetzt, sondern digital und analog zu einer neuen Erlebniswelt zusammenzuführen. Daher das Tagungsmotto „LIFESTYLE – Aufbruch in neue Welten“.
Dabei, sagt der Neurowissenschaftler Dr. Henning Beck, sollten sich die Menschen durchaus auf die eigenen analogen Fähigkeiten verlassen. Es stimme, dass das menschliche Gehirn bezüglich der Anzahl möglicher Rechenschritte und Fehlerquote uneinholbar unterlegen sei. Aber dennoch könnten die Computer nur das leisten, was ihnen beigebracht worden sei, und auch selbstlernende Systeme in sich gefangen bleiben, weil sie mit wiederkehrenden Algorithmen arbeiteten. Das menschliche Hirn dagegen nehme einen „Umweg“ und denke in Konzepten, in Denkmustern, was die ganze Angelegenheit extrem beschleunige. Vor allem aber sei der Mensch in der Lage, Denkmuster aufzubrechen, Neues zu schaffen. Also, empfiehlt Dr. Beck, solle man auch keine Angst haben, Dinge auszuprobieren, zu improvisieren und Fehler zu begehen. Nicht der Fehler sei das Problem, sondern die Angst davor.
Generell rückten die Fachbeiträge den Blick auf den Menschen und auf die analoge Welt. Titus Dittmann, Unternehmer und Gründer von TITUSSkateboarding, sagt etwa, dass man den Menschen verstehen müsse, dem man etwas verkaufen wolle. Das ist nun nicht neu, aber immer noch richtig. Dittmann sagt auch, dass Menschen in sich das Bedürfnis nach Innovation und Veränderung trügen. Und dieses gelte es zu stärken, um die Menschen sich frei entfalten zu lassen, statt sie von Beginn an in vorgefertigte Schablonen zu pressen. Nach diesem Prinzip habe er auch sein Unternehmen aufgebaut – frei von Ängsten, frei von der Angst, Fehler zu machen.
Markus Schwitzke, geschäftsführender Gesellschafter der Schwitzke Graphics GmbH, appelliert an die Kraft des Analogen: „Werden Sie vom Platzhirsch zum Platz der Sinne.“ Der Größte, der Vollste oder der Tollste zu sein, auch die jährliche Neupositionierung sei gar nicht nötig, wenn sich das Management mit gesundemMenschenverstand an diese Aufgabe mache. „Ein Lieblingsort muss alle Sinne ansprechen“, sagt Schwitzke und fordert: The productisthehero, aber weniger Ware und mehr Kundenansprache. Die Kundenansprache sollte aber keinesfalls stur nach Schema F durchgetaktet sein, sondern auf Kunde, Ort und Zeit angepasst werden. Man tue den Kunden keinen Gefallen, wenn sie über drei Stockwerke hinweg gen ganzen Tag langdie gleiche Musik hörten. „Werden Sie wieder zur Bühne“, vergleicht Schwitzke ein Handelshaus mit einem Theater. „Viele Faktoren entscheiden.“Als zum Abschluss der Veranstaltung KATAG-Vorstand Angelika Schindler-Obenhaus den Designer Michael Michalskyfragt, ob die Trendforscherin Li Edelkoort mit ihrer Behauptung recht habe, die Mode sei tot, antwortet er, avantgardistische Mode bekomme man noch. Aber man müsse sich umsehen. Und er sagt auch: „Der stationäre Handel hat auf jeden Fall eine Zukunft, wenn er anders, wenn er ‚out oft he box‘ denkt.“