Von Nöten und Tugenden

Leben nach dem Lockdown

Corona hat das Arbeitsleben, so, wie wir es bislang kannten, revolutioniert und in nicht einmal zwei Monaten das geschafft, worüber in Unternehmen seit Jahren häufig erfolglos lamentiert und debattiert wurde. ©pixabay
Autor: Andreas Grüter

Corona-Pandemie, Stand 6. April 2020. Der Lockdown hat die globale Wirtschaft und Gesellschaft seit Wochen fest im Griff und ein schnelles Ende der Krise ist nicht absehbar. Zeit, einen Schritt zurückzutreten und einen ersten Blick auf die Ursachen, die Folgen und die sich bietenden Chancen zu werfen.

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Virenschleuder Globalisierung

Von der Java-Hufeisennase, einer in Südostasien heimischen Fledermausart, zum Malaiischen Schuppentier und schließlich weiter zum Menschen – wie viele Stationen dazwischenlagen und wie lange die Odyssee des neuartigen Coronavirus Covid-19 von Tierart zu Tierart wirklich gedauert hat, wird auch von der Wissenschaft wahrscheinlich nie ganz geklärt werden können. Für Forscher steht indes bereits fest, dass Seuchen wie diese, vor denen bereits seit Jahren eindringlich gewarnt wurde, hausgemacht sind. Das massive Artensterben der vergangenen Jahrzehnte, industrielle Fleischproduktion, zerstörte Ökosysteme und der Raubbau an der Natur als negative Folgen der Globalisierung sorgen dafür, dass sich die Lebensräume von Mensch und Tier mehr und mehr überschneiden. Die Konsequenz: Immer häufiger springen Krankheitserreger von Tieren auf Menschen über. Eine Entwicklung, die sich unsere Gesellschaften weder ökologisch noch wirtschaftlich weiter werden leisten können. Paradoxerweise ist die Globalisierung hier sowohl Problem als auch ein Teil der Lösung. Um diese Krise zu bewältigen und weitere zu vermeiden, muss weltweit auf politischer, wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Ebene enger zusammengearbeitet werden. Internationaler Handel braucht dabei nicht nur international durchsetzbare Regeln. Es ist auch an der Zeit, lieb gewonnene Gewohnheiten kritisch zu hinterfragen. Dazu gehört übermäßiger Fleischkonsum ebenso wie lange Produktionsketten.

Arbeit 3.0

Eines ist schon jetzt klar: Corona hat das Arbeitsleben, so, wie wir es bislang kannten, revolutioniert und in nicht einmal zwei Monaten das geschafft, worüber in Unternehmen seit Jahren häufig erfolglos lamentiert und debattiert wurde. Ehedem festgeschriebene Dienstzeiten wurden im rasanten Tempo flexibilisiert und die Zahl der Homeoffice-Arbeitsplätze ist sprunghaft angestiegen. Businessreisen finden nur noch in Ausnahmefällen statt. Stattdessen trifft man sich in Videokonferenzen und auf digitalen Messeplätzen. Erstaunlich, was nicht alles funktioniert, wenn es denn muss. Das politische Herumgeeiere um den konsequenten Ausbau der digitalen Infrastruktur muss und wird damit hoffentlich ein Ende haben, denn dass sich diese Entwicklung nach der Krise wieder umkehrt, ist nahezu ausgeschlossen.

New Business

Wir können es drehen und wenden, wie wir wollen. Die traurige Wahrheit ist, dass diese Krise Arbeitsplätze und Existenzen vernichtet. Die von der Regierung aufgesetzten Hilfsmaßnahmen werden die Härte des Falls maximal mindern, sie aber nicht gänzlich abfedern können. Angesichts massiver wirtschaftlicher Verwerfungen ist es daher sicherlich unredlich, die Floskel von der Krise als Chance zu nutzen. Fest steht jedoch, dass in schweren Zeiten seit jeher kreatives Potenzial freigesetzt wird. Unwägbarkeiten zwingen uns nicht nur, out of the box zu denken, sondern auch, out of the box zu handeln. Es macht Mut zu sehen, wie Konkurrenzunternehmen plötzlich zusammenarbeiten, wie Künstler neue Wege zu ihrem homelocked Publikum finden, Gastronomen und Buchhändler in kürzester Zeit Lieferservices und telefonische Produktberatungen auf die Beine stellen, kleine Geschäfte und Freiberufler die Zeit nutzen, ihr Business nachhaltig auf den neuesten digitalen Stand zu bringen, und große Teile der Gesellschaft lokale Strukturen solidarisch unterstützen. Und auch Fashionlabels wie ETERNA, PRADA, RÖSCH und trigema machen sich locker und flexibel und produzieren vorübergehend Mundschutz statt Mode, passen ihre Order- und Lieferrhythmen an oder stampfen wie L&T und C. WIRSCHKE massive Online-Shops aus dem Boden. Natürlich reichen die erzielten Umsätze bislang längst nicht aus, aber man sollte sich vor Augen halten, was hier in nur knapp einem Monat bereits alles passiert ist.

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Tradition Revisited

Auch wenn es den stationären Einzelhandel derzeit am härtesten trifft, ist es offensichtlich, wie eng die längst verloren geglaubte Bindung des Konsumenten zum kleinen Laden um die Ecke plötzlich wieder ist. Man kennt sich und rückt näher zusammen. Initiativen wie das in Köln von einer Webdesign-Agentur ins Leben gerufene Projekt Veedelsretter koordinieren Gutscheinaktionen und schlagen die Brücke zwischen Händlern und Käufern. Und auch das Thema „Do it yourself“ erhält weiteren Auftrieb. In heimischen Wohnzimmern rattern die Nähmaschinen, während in Kellern fleißig repariert und geflickt wird. Tipps, Tricks und Kniffe dazu findet man in neuen Internet-Foren.

Mehr Solidarität wagen

Die massive Störung des öffentlichen Lebens macht die Fragilität unserer Wohlstandsgesellschaft unmittelbar greifbar. Waren prall gefüllte Regale bislang selbstverständlich, erleben Menschen zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg wieder, was es heißt, wenn Alltagsware wie Nudeln oder Toilettenpapier gar nicht mehr erhältlich ist oder, wie vielfach passiert, zu Wucherpreisen im Internet angeboten wird. Und auch skrupellose Finanzwetten gegen betroffene Länder und der Kampf um die so wichtigen medizinischen Schutzmasken für Ärzte, der in der Arena des Marktes statt in der Solidargemeinschaft ausgetragen wird, sollten längerfristig, sprich über den Lockdown hinaus, nachdenklich stimmen. Können wir uns angesichts dieser und der vielen anderen existenzbedrohenden Krisen ein „Weiter so“ leisten? Ist das Festhalten an der Wachstumsmaxime wirklich sinnvoll oder gibt es Alternativen? Fragen, die dringender denn je auf ihre Beantwortung warten.