Agilität statt Angst

Digitalisierung

Module vollständig vernetzter, flexibler Systeme: künstliche Intelligenz, Robotik und digitale Zwillinge, in denen Maschinen, Menschen, Produkte und Prozesse als Teil der Smart Factory betrachtet werden. Fotos ©Joachim Hensch consulting

Autorin: Yvonne Heinen-Foudeh
„Wer Visionen hat, der sollte zum Arzt gehen“, hat Helmut Schmidt gesagt. Wenn Joachim Hensch über den Digitalisierungsprozess in der Mode spricht, ist die Vision zur Realität geworden. Das Disruptive des anstehenden Paradigmenwechsels mutiert vom „Prinzip Angst“ zum „Projekt Agilität“ beim Publikum. Mit Joachim Hensch sprach – nach seiner Rückkehr von fünf Jahren Türkei-Mission – unsere Korrespondentin Yvonne Heinen-Foudeh. Und ja, Hensch weiß, wie Storytelling geht: Wenn er über die Anwendung von künstlicher Intelligenz, von Robotics, vom Digital Twin als elementarer Voraussetzung jeder Smart Factory plaudert, über vereinfachte IT-Zugriffe, Spracherkennung als Steuerungstool oder modular flexible Systeme philosophiert, seine Visionen mit Videos, Grafiken, aber auch Cartoons vermittelt, dann ist das Edutainment vom Feinsten. Bloß, dass all dies real ist und in Aktion. Und es ist seine Geschichte und erfolgreich umgesetzt.

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Joachim Henschs aktuelle Stellenbeschreibung: Mentoring mit Beratungsqualität

Joachim Hensch ist der Protagonist, unter dessen Leitung die erste Smart-Factory-Anwendung in der realen Welt der Bekleidungsfertigung wahr wurde. HUGO BOSS Group heißt das Unternehmen, das seinen Vorschlag zur Initiative aufgriff, sich auf das Abenteuer einließ. Gäste der Izmir-Digifaktur – darunter die Chronistin – konnten sich davon überzeugen: Smarte Organisation auf dem Wege zur Industrie 4.0 ist machbar – „auch in der Bekleidungsfertigung“, ergänzt „Josch“ – so nennen ihn seine engsten Netzwerkpartner über die Jahre.

Dazu gehören eben auch die Anekdoten von Pech und Pannen, vom Erfindergeist bei technischen Lösungen, die der Markt noch nicht hergibt – das getaktete Management der Projekte entlang des Scrum-Modells. „Natürlich hatten wir auch Rückschläge hinzunehmen über den mehrphasigen Entwicklungsprozess von IT- und auch mechanischen Lösungen, hatten diverse Herausforderungen zu stemmen, neu zu denken über die gesamte Implementierung hinweg“, führt der Experte bei ganzheitlichem Wissen rund um Bekleidungsherstellung und Technologie im Zoom-Meeting mit FT aus. „Ich bekenne mich als Anhänger und Anwender des Scrum-Vorgehensmodells, das immense Hilfestellung bei der Umsetzung hochkomplexer Projekte im Team bietet.“ Hensch kommt nun in Schwung, erläutert den Einsatz aktiver digitaler Assistenten (Chatbots), die bei der Datenabfrage und der Bevorratung von Informationen helfen, von AR/VR (Augmented/Virtual Reality) zur Analyse von Arbeitsgängen vor Maschinenentwicklungen und zum Mitarbeitertraining.

Vorbild der globalen Bekleidungsindustrie

Eigener Produktionsstandort in Izmir: Hier ersetzt die intelligente Fabrik konventionelle Automatisierung. ©BOSS

Ein Glücksfall, den der HAKA-Tycoon nicht bereut haben dürfte: In seiner Funktion als Managing Director des BOSS-Produktionsstandorts Izmir hatte er dem Metzinger Vorstand die Initiative Digital Lean Factory unterbreitet und ihn schließlich vom „Abenteuer Industrie 4.0“ überzeugt. In der unternehmenseigenen Fertigung in der türkischen Hafenmetropole werden auf einer Fläche von rund 65.000 Quadratmetern mit rund 3.800 Mitarbeitern Anzüge, Sakkos, Hemden und Mäntel produziert, ferner große Stückzahlen auch von DOB. Hier machte sich der gelernte Herren-Maßschneider mit dem Rüstzeug seiner Branchen- Stationen über die Jahre in Entwicklung und Produktion 2015 ans Werk: „Mein Team und ich, wir haben fünf Jahre gebraucht, den konventionellen Betrieb in Izmir in eine waschechte Smart Factory zu verwandeln“, erklärt Hensch, „um die gesamte Ablauforganisation flexibel und reaktiv abzubilden mittels Umsetzung von Industrie-4.0-Maßnahmen.“ Sprichts und schenkt uns ein Lächeln, als wir nach der Höhe des Investments fragen. „Und ist nach Ihrer realistischen Einschätzung die Amortisation erreichbar, Joachim?“, haken wir nach. „Den ROI hatten wir 18 Monate nach Projektabschluss erzielt.“

Symbole der Machbarkeit

Das Ziel jedenfalls ist erreicht: Der Marktführer bei Herrenbekleidung belegt, wie Industrie 4.0 in der Praxis aussehen kann – mit vernetzten Maschinen, tiefgreifenden Datenanalysen und flexiblen Prozessen. Weit wichtiger: beste Bereitschaft für ein hochvolatiles, anspruchsvolles und schnelllebiges Marktumfeld. „Ich bin sehr zufrieden, dass die HUGO-BOSS-Anwendung auch ein Symbol für die Machbarkeit geworden ist.“ Denn das Thema Smart Factory ist zwar in aller Munde, Laborinstallationen waren vor der Pandemie auf Tech-Messen zu bestaunen. Für die Branche bleibt jedoch der Sprung von der traditionellen Automatisierung hin zu einem vollständig vernetzten und flexiblen System bis dato Zukunftsmusik – zumindest in der westlichen Hemisphäre. „Asiens E-Commerce-Riese Alibaba unterhält ja mittlerweile die Smart-Manufacturing-Business-Initiative in der ostchinesischen Stadt Hangzhou“, gibt unser Gesprächspartner zu bedenken. Stimmt, so hört man, Besucher kennen wir keinen. Wundern würde es aber sicher wenige, wenn auch amazon weiterhin an ähnlichen Projekten arbeitet. Weder an technischem Know-how noch an den Budgets für Fashion Smart Factories dürfte es auch den drei anderen Internet-Giganten des GAFA-Klubs (Google, Apple, facebook und eben amazon) kaum fehlen. Mit dem Bedarfs- und Lifestyle-Gut Mode liebäugeln sie allemal. Das sieht auch Hensch so: „Und Kreativität kann man zukaufen.“

Vielversprechendes nächstes Projekt am digitalen Horizont, Schulterschluss von Forschung und Lehre: Der belgisch-deutsche vertikale Einzelhandelskonzern C&A (1.400 PoS in 18 europäischen Ländern) plant den Start seiner digitalen und CO2-freien Hosenfertigung: In der Produktionsanlage 7.0 der Hochschule Niederrhein soll es im Herbst dieses Jahres losgehen mit einem Tagesausstoß von 2.000 Jeans.

Eine Dimension, die wohl auch eher Laborcharakter hat – oder wie beurteilt das der Experte? „Klein anfangen, schnell entwickeln, dann groß skalieren – das ist mein persönlicher Rat an jedes Unternehmen für seine digitale Reise. C&A handelt nach diesem klugen Prinzip“, bezieht Hensch Stellung und führt aus: „Ich sehe jedenfalls nicht, dass die Massenproduktion zurück nach Europa kommt. Das soll auch gar nicht das Konzept von Nearshoring sein, sondern vielmehr die marktnahe Reaktion auf Trends. Es gibt keinen Grund, die Produktion weißer T-Shirts mit Auftragsgrößen von 10.000 Stück pro Farbe zurückzuholen.“

Mission erfüllt

Die Nutzung konstanter Datenströme zwischen vernetzten Produktionssystemen verkürzt bei HUGO BOSS die Go-to-Market-Zeit, ermöglicht optimierte Anpassung an Verbraucher-Trends. Foto: der BOSS Store in SoHo/New York

Doch vom Reich der Mutmaßungen zur Realität: Und wie gehts bei Ihnen weiter, Joachim Hensch? Nach zwei Jahrzehnten bei der HUGO BOSS Group ist er bereit für eine neue Herausforderung: „Das Bekleidungsbusiness begeistert mich seit mehr als drei Jahrzehnten.“ Wir sind mit ihm am Rande einer OECD-Fachdiskussion verabredet – virtuell versteht sich. „Per Weiterbildung in die #ZukunftderArbeit“, lautet das Thema. Einig sind sich alle Teilnehmer an der Runde: Effektive Weiterbildung ist an viele Voraussetzungen gebunden. Beim Wrap-up in kleiner Branchenrunde sagt Hensch: „Wir müssen unbedingt an das Thema Erwachsenenbildung ran. Wir können ja jetzt nicht so tun, als würde durch die Digitalisierung alles verjüngt. Und alle jenseits der 40 schaffen leider nicht die Voraussetzungen für diese neuen Berufe und Umfelder“, bezieht der 57-Jährige Stellung, der selbst eine bemerkenswerte Karriere hingelegt hat – von der Ausbildung zum Herren-Maßschneider über Stationen in der Produktentwicklung und Fertigung sowie den Managing Director eben für den HUGO-BOSS-eigenen Fertigungsbetrieb im türkischen Izmir bis hin zur heutigen Selbstständigkeit.

„Career Guidance“ beschreibt den Löwenanteil von Henschs neuem Aktionsfeld. Angetrieben ist er von dem Gedanken, Erfahrung und Wissen zu teilen. Angetreten, Marken, Organisationen, Start-ups oder Einzelakteure dabei zu unterstützen, ihre individuelle digitale Strategie zu definieren – „essenzieller Ausgangspunkt für jedes Smart-Factory-/Sourcing-Konzept“, betont der Unternehmer, nunmehr Inhaber von Joachim Hensch consulting mit Standort in Süddeutschland.

Mentoring mit Beratungsqualität

In diesen Tagen geht sein Inverted-Online-Classroom-Programm an den Start, gestaffelt mit drei Abschlüssen. Basierend auf den Rahmenbedingungen des Anwendungsprotagonisten für die Digital Lean Factory als Fundament der Schulung, bestimmt hier jeder sein individuelles Lerntempo für das Durcharbeiten von:

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o         sechs Modulen für den Bachelor,

o         zwölf Modulen für den Champion und

o         bedarfsgerechter, nach oben offener Modulzahl für den Master-Abschluss.

Das Lernziel: Industrie 4.0 erfolgreich umsetzen – im täglichen Umgang, digital und analog. „Die Teilnehmer werden in die Lage versetzt, die Strukturen und Prozesse in ihrer Organisation, ihre Anlagen und auch ihre Mitarbeiter und deren Potenziale neu zu betrachten“, so Hensch.

Der Zeitbedarf:

  • drei bis vier Stunden pro Woche inklusive Online-Meetings zur Begleitung des Prozesses
  • Einzelsitzungen mit Joachim Hensch selbst
  • spezifische Expertengruppen-Sitzungen

Umfangreiches Schulungsmaterial inklusive Übungen wird offline zu Trainingszwecken und Reviews bereitgestellt.

www.joachimhensch.com

Bevor wir unserer Wege gehen, eine letzte Frage: Was sagen Sie Unternehmern, Herr Hensch, die sich darauf berufen, Strategien zur konsequenten Digitalisierung müssten warten, zurzeit habe man andere Sorgen? – „Denen wünsche ich recht viel Glück!“

Übrigens: Helmut Schmidt relativierte im Nachgang seinen Kommentar zu Willy Brandts Visionen im Bundestagswahlkampf 1980: „Das war eine pampige Antwort auf eine dusselige Frage.“