„Zukunftsfähigkeit ist kein Nischenthema“

Arbeit und Gesellschaft

„Höhere Freiheitsgrade sollten nicht einfach verordnet werden, sondern aktiv miteinander entwickelt, kommuniziert und eingeübt werden", sagt der Philosoph und Wirtschaftsethiker Dr. Philippe Merz

Autor: Markus Oess
Die Welt, die wir noch bis 2019 kannten, ist eine andere. Doch wie verändern Pandemie, Digitalisierung und der gesellschaftliche Wandel den Stellenwert der Arbeit und des Individuums und was bedeutet das aus Sicht des Arbeitnehmers? Welche Schlussfolgerungen können daraus für die Gesellschaft gezogen werden und wie sollten Arbeitgeber damit umgehen? Wir haben darüber mit dem Philosophen und Wirtschaftsethiker Dr. Philippe Merz gesprochen.

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FT: Herr Dr. Merz, Arbeit hat sich in der Gesellschaft immer wieder neu definiert, als volkswirtschaftlicher Produktionsfaktor aber ist sie erst gleichwertig mit Kapital im Zuge der aufkommenden Organisation der Arbeiter und der Neubewertung des theoretischen Unterbaus geworden. Im Grunde also erst nach der industriellen Revolution. Braucht der arbeitende Mensch demnach organisierte Kraft, um sich gegenüber dem „Kapital“ zu behaupten?
Dr. Philippe Merz: „Mir scheint, in Ihrer Frage stecken gleich mehrere Thesen und Unterfragen, sodass es mir nicht ganz leichtfällt, eine pointierte Antwort zu geben. Aber wenn Sie danach fragen, ob Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch im 21. Jahrhundert ,organisierte Kraft‘ im Sinne von Berufsverbänden, Gewerkschaften oder Betriebsräten benötigen, liegt die grundsätzliche Antwort auf der Hand: ja, natürlich. Ebenso sehr zeigt sich jedoch bei genauerem Hinsehen, dass diese Art von Interessenvertretung nicht mehr ausreicht, um unsere Arbeitswelt strukturell und langfristig gerechter zu machen. Das hat viele und teils komplexe Gründe, aber beispielhaft lässt sich sagen: Vielen dieser Interessenvertretungen fällt es schwer, ihre Rolle in einer dynamisierten Arbeitswelt zu finden, etwa weil Organisationen zunehmend auf kooperative Führung, auf mehr Eigenverantwortung oder sogar ganz auf Selbstorganisation in agilen Teams setzen. In solchen Arbeitsumgebungen ist der alte Augenhöhenunterschied zwischen dem ,Chef da oben‘ und der ,kleinen Angestellten da unten‘ viel weniger spürbar, auch wenn er oft nach wie vor existiert. Viele Beschäftigte erleben somit keinen starken Gegensatz mehr zwischen ihrem eigenen Willen und dem ihres Arbeitgebers. Manche Strategien der Mitarbeitersteuerung zielen sogar darauf ab, dass die Beschäftigten die Ziele des Unternehmens möglichst umfassend zu ihren eigenen machen. Dies kann geschehen, indem über Benchmarks, Teamziele und Individualziele gesteuert wird, indem Vertrauensarbeitszeit gewährt wird, die bei vielen Menschen allerdings dazu führt, dass sie unbemerkt notorisch mehr arbeiten als vereinbart, oder auch, indem das Leben im Unternehmen derartig komfortabel gestaltet wird, dass man kaum noch dort wegmöchte. Viele Beschäftigte, deren Absichten und Verhalten so gesteuert wird, wollen sich gar nicht mehr von einer Gewerkschaft vom Arbeiten abhalten lassen. So kann es jedoch passieren, dass die Beschäftigten das Schlechteste aus beiden Welten erleben: Sie sollen bitte so leistungsbereit und erschöpfungswillig arbeiten wie Selbstständige, doch sie bleiben stets abhängig Beschäftigte ohne Eigentumsanteile an der Organisation. Dass diese Kombination problematisch ist, lässt sich auch daran ablesen, dass die psychische Belastung am Arbeitsplatz seit Jahren zunimmt – und das, obwohl unsere Arbeitswelt an vielen Stellen so frei, bunt und flexibel anmutet.“

„Insgesamt steht Deutschland in Sachen Digitalisierungsfortschritte aber eher fragwürdig da. Selbst in Europa liegen wir hier nur auf Platz 13, wie es der aktuelle Index für die digitale Wirtschaft und Gesellschaft der EU-Kommission verdeutlicht.“

Einen Strukturwandel hat es in der Wirtschaft, auch in der deutschen, schon öfter gegeben, etwa was den Tagebau angeht oder die Abwanderung der Textil- und anderer Industrien in Billiglohnländer. Welches Ausmaß an Strukturwandel bringt die Digitalisierung und deren Beschleunigung durch die Pandemie mit sich?
„Für einen solchen Wandel gibt es ja keine Maßeinheit wie Kilogramm oder Gigawatt. Daher lässt sich das Ausmaß an struktureller Veränderung, das die Digitalisierung mit sich bringt, auch nicht so einfach messen, schon gar nicht über sehr unterschiedliche Lebenswelten und Arbeitsfelder hinweg. Dennoch lässt sich sagen, dass die meisten Arbeitswelten mittlerweile grundlegend von der digitalen Transformation verändert wurden. Schon eine einzige Zahl vermittelt vielleicht eine Ahnung hiervon: Während der beiden Pandemie-Jahre 2020 und 2021 ist die Zahl von reinen Online-Veranstaltungen gegenüber der Welt vor der Pandemie um 1.000 Prozent gestiegen.

Insgesamt steht Deutschland in Sachen Digitalisierungsfortschritte aber eher fragwürdig da. Selbst in Europa liegen wir hier nur auf Platz 13, wie es der aktuelle Index für die digitale Wirtschaft und Gesellschaft der EU-Kommission verdeutlicht. Dieser Index untersucht die Kriterien ,Humankapital‘, ,Konnektivität‘, ,Integration der Digitaltechnik‘ und ,Digitale öffentliche Dienste‘ im EU-weiten Vergleich. Auch wenn ich diese Kriterien für teils problematisch halte, gibt das aktuelle Ergebnis einen deutlichen Hinweis: Wir sind in Deutschland zu Beginn der ,digitalen Dekade‘ gerade einmal Mittelmaß. Teilweise steuern wir nun nach, auch in strukturell langsameren Arbeitswelten wie etwa der Justiz, wo der elektronische Rechtsverkehr Fortschritte macht, oder im Gesundheitswesen, wo die elektronische Patientenakte schrittweise eingeführt wird. Wenn wir bisherige Versäumnisse nun klug nachholen, wenn wir zugleich Prinzipien wie Datensparsamkeit, Datensicherheit und Dateneigentum ins Zentrum rücken und wenn wir solche Prinzipien mit gezielten Bildungsangeboten verbinden, um das digitale Funktionswissen und die digitale Urteilskraft der Menschen zu stärken, dann steckt hierin tatsächlich eine große Chance für eine lebensdienliche, maßvolle Digitalisierung.“

Was folgern Sie daraus für Arbeitnehmer und Arbeitgeber im Sinne einer kooperierenden Wertegemeinschaft?
„Für die Digitalisierungsstrategie in Unternehmen folgt hieraus beispielsweise, dass Digitalisierung kein Selbstzweck ist, sondern lediglich ein Mittel, um gemeinsame Routinen zu erleichtern, um die Qualität der eigenen Produkte und Dienstleistungen zu verbessern oder um anpassungsfähiger gegenüber Veränderungen im Marktumfeld zu werden. Wenn wir digitale Technologien primär so verstehen und einsetzen, dann wird durch die Digitalisierung von Arbeitsprozessen auch kein Mensch ,überflüssig‘, wie immer wieder gerne behauptet, sondern allenfalls die Tätigkeit, die er aktuell ausübt. Und ganz ehrlich: Gerade bei vielen monotonen und repetitiven Aufgaben ist das auch wünschenswert. Die Aufgabe für Arbeitgeber und Arbeitnehmer besteht dann darin, gemeinsam zu schauen, ob die Person andere Tätigkeiten in der Organisation übernehmen könnte, dann diejenigen Kenntnisse und Fähigkeiten zu identifizieren, die sie hierfür noch entwickeln muss, und schließlich zu vereinbaren, auf welchem Weg sie sich diese neue Expertise aneignet. Das wäre ein Beispiel für eine aus meiner Sicht menschendienliche, partizipative Digitalisierung in Organisationen. Darüber hinaus benötigen wir als Gesellschaft jedoch digitale Bildungsformate, die bereits in Schulen und Hochschulen beginnen und die auch im Erwerbsleben kontinuierlich von Staat und Arbeitgebern gefördert werden, um die dringend benötigte digitale Mündigkeit der Menschen im 21. Jahrhundert zu stärken.“

Auf der einen Seite gaukeln die sozialen Medien so etwas wie Individualismus vor, die Illusion, im Netz eine eigene, besondere Stellung einzunehmen, die so nicht existiert und nur in der eigenen Bubble reproduziert wird. Was aber macht die Digitalisierung tatsächlich mit den Menschen als Individuum und dem Wert ihrer Arbeit in der gesellschaftlichen Wahrnehmung und ihrer tatsächlichen Bedeutung?
„Hier stellen wir derzeit einen immer deutlicheren Wandel fest: Während viele Menschen in den vergangenen Jahren die scheinbaren Gratisangebote der Digitalwirtschaft recht unhinterfragt in ihr Leben gelassen haben, wächst mittlerweile das Bewusstsein für die teils sehr fragwürdigen Geschäftsmodelle der dahinterstehenden Konzerne und die Auswirkungen dieser Angebote auf unser alltägliches Zusammenleben. Manche dieser Geschäftsmodelle sind in sozialer Hinsicht fragwürdig, etwa wenn sie gesellschaftliche Blasenbildungen und Spaltungen verstärken. Häufig sind sie zudem ökologisch fragwürdig, etwa weil sie uns möglichst lange und intensiv auf der Plattform halten wollen, was den Ressourcen- und Energiehunger digitaler Produkte und Dienstleistungen weiter exponentiell steigen lässt. Und viele dieser Geschäftsmodelle sind auch deswegen fragwürdig, weil sie unser Selbstverhältnis auf problematische Weise verändern, etwa indem ich mein Selbstwertgefühl zunehmend davon abhängig mache, wie andere Menschen in sozialen Medien meinen Körper, mein Auftreten oder die von mir beigetragenen Inhalte beurteilen. Oder auch, indem ich nur noch das für wichtig und ,real‘ halte, was sich mit der Smartwatch messen lässt, also meine Herzfrequenz, meine täglich zurückgelegten Schritte oder mein aktueller Blutdruck. Für diese drohende digitale Entfremdung von mir selbst, von meinen Mitmenschen und von der Natur wächst nun das Bewusstsein. Zugleich gilt aber: Von dieser Sensibilisierung bis zu einem ausgewogenen und souveränen Umgang mit digitalen Technologien im privaten und beruflichen Alltag ist es ein weiter Weg. Daher vermitteln wir in unserer Weiterbildung Digitalethik nicht nur die Fähigkeit zu erkennen, an welchen Stellen die Digitalisierung unsere Art zu arbeiten, miteinander umzugehen oder uns zu engagieren auf problematische Weise verändert, sondern vermitteln zudem konkrete Impulse, wie es anders und besser geht, also verantwortungsvoller, weitsichtiger und sozial wie ökologisch zukunftsfähiger.“

„Wir sollten mehr darüber sprechen, was erfüllte Arbeit ausmacht und welche Handlungsspielräume und Freiheiten, aber auch Orientierung, Regeln und Sinnstiftung sich Menschen in unterschiedlichen Rollen ihres Arbeitsalltags wünschen.“

Digitalisierung ist eine Sache und Homeoffice gehört sicher zu den Privilegien von bestimmten Berufsgruppen. Für den normalen Fabrikarbeiter, die Pflegekraft aber ändert sich nichts, außer im Zweifel die Arbeitsverdichtung. Was passiert mit diesen Menschen? Brauchen wir eine neue Definition von Arbeit, dem Wert der Arbeit und vielleicht auch der Entlohnung im Sinne der Verteilungsgerechtigkeit, monetär, aber auch, was andere Faktoren wie Urlaub oder Anwesenheitspflichten et cetera angeht?
„Ich würde gar nicht behaupten, dass wir bereits eine einheitliche Definition von ,Arbeit‘ haben, im Gegenteil: Je nachdem, wen Sie fragen, werden Sie sehr unterschiedliche Vorstellungen von diesem Begriff finden. Viele assoziieren damit zwar grundsätzlich so etwas wie ,Erwerbsarbeit‘, aber auch da variieren die Vorstellungen von sehr körperlichen, schweißtreibenden Aufgaben bis hin zu rein organisatorischen, intellektuellen oder kreativen Tätigkeiten. Wieder andere assoziieren mit dem Begriff auch nicht erwerbsförmige Tätigkeiten, etwa die Sorge-Arbeit für Kinder und pflegebedürftige Angehörige. Und manche sind überzeugt, dass die Beziehung zum Partner die härteste Arbeit überhaupt ist … Mit anderen Worten: Der Begriff ,Arbeit‘ ist oft nur eine Chiffre, mit der wir kommunizieren, was uns wichtig ist, wer wir gerne sein möchten und woran unser Selbstwertgefühl besonders hängt.

Sie haben natürlich recht, dass viele Tätigkeiten nicht digitalisierbar sind und nicht im Homeoffice erledigt werden können. Wenn Sie mit diesen Menschen sprechen, stellen Sie aber auch fest, dass sehr viele gerade diese körperliche Dimension ihrer Arbeit und die persönliche Interaktion mit anderen Menschen als besonders wertvoll erleben und daraus einen großen Teil ihrer Selbstwirksamkeitserfahrung schöpfen. Nehmen sie etwa eine Physiotherapeutin, einen Pfleger, einen Schreiner, einen Elektriker oder eine Verkäuferin im Modegeschäft. Insofern würde ich auch bezweifeln, dass es sich beim Homeoffice generell um ein Privileg handelt: Für viele Menschen bedeutet Homeoffice eher soziale Entkoppelung, parallele Kinder- und Haushaltsjonglage und die Last, sich permanent in hohem Maß zu disziplinieren, verbunden mit der Frage, ob man heute eigentlich irgendetwas geschafft und bewegt hat.

Daher wäre es aus meiner Sicht auch verfehlt, für solche Tätigkeiten, die körperliche Anwesenheit erfordern, generell irgendeine Art von ausgleichender Gerechtigkeit zu üben. Stattdessen sollten wir mehr darüber sprechen, was erfüllte Arbeit ausmacht und welche Handlungsspielräume und Freiheiten, aber auch Orientierung, Regeln und Sinnstiftung sich Menschen in unterschiedlichen Rollen ihres Arbeitsalltags wünschen. Aber auch das geht nicht allgemein und ex cathedra, sondern nur im direkten Austausch zwischen allen Beteiligten innerhalb einer Organisation.“

Wie sieht diese Definition aus und welche neuen Gestaltungsspielräume zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber wird es geben?
„Schon heute schaffen Organisationen und Arbeitgeber viele neue Gestaltungsspielräume, die bis vor Kurzem noch undenkbar waren. Das liegt an teils überraschend positiven Digitalerfahrungen zu Pandemie-Zeiten, aber vor allem daran, dass viele Unternehmen ansonsten gar keine Fachkräfte mehr für sich gewinnen können, geschweige denn, besonders qualifizierte Spezialistinnen langfristig halten können. Dabei geht es teilweise ums Geld, noch häufiger aber um den Selbstbestimmungsradius in der alltäglichen Arbeit: Wird partizipativ geführt und in guter Organisationskultur miteinander gearbeitet? Kann ich Probleme offen ansprechen und werden diese schnell und sachlich bearbeitet, ohne dass ich mir jedes Mal Sorgen um persönliche Nachteile, Unternehmenspolitik, Abstimmungsaufwand und Berichtspflichten machen muss? Kann ich für eine gewisse Zahl an Tagen frei entscheiden, von wo aus ich arbeite, ohne es aufwendig zu begründen und genehmigen zu lassen? Viele digitalaffine KMUs, aber auch DAX-30-Konzerne gehen bei solchen Fragen mittlerweile weitaus offener und sensibler auf die Wünsche und Erwartungen der Beschäftigten ein als noch vor zwei, drei Jahren.“

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Definieren wir dann auch die Aufgaben einer Führungskraft und ihrer Mitarbeiter neu, etwa im Sinne einer autonomeren Arbeitsumwelt für jeden Einzelnen?
„In der Tendenz würde ich sagen: Ja, diese Entwicklung findet in vielen Organisationen und Branchen längst statt. Die Sache hat allerdings mindestens zwei Haken. Zum einen erleben nicht alle Menschen mehr Autonomie als einen Fortschritt, sondern als Verunsicherung, Desorientierung oder sogar Überforderung in Bezug auf das, was von ihnen erwartet wird und wo zugleich die Grenzen ihres Verantwortungsradius liegen. Höhere Freiheitsgrade sollten also nicht einfach verordnet werden, sondern aktiv miteinander entwickelt, kommuniziert und eingeübt werden.

Zum anderen erleben wir in manchen Arbeitswelten starke Beharrungskräfte von alten Denk- und Verhaltensmustern, insbesondere im Umgang mit Hierarchien, Bürokratie und Leistungsorientierung. Für dieses scheinbare Paradox haben Geistes- und Sozialwissenschaftler die Formulierung der ,Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ gefunden: Wir erleben zu ein und derselben Zeit Organisationskulturen und Führungsstile, die so unterschiedlich sind, dass sie geradezu aus verschiedenen Epochen stammen. Für Wirtschaftsphilosophen und Organisationsentwicklerinnen besteht eine wichtige Aufgabe darin, hier für Aufklärung und Orientierung zu sorgen und mit den Beteiligten zu erarbeiten, auf welchen grundlegenden Werten und Prinzipien eine Organisation aufgebaut ist oder sein sollte und was das für die alltägliche Zusammenarbeit konkret bedeutet.“

Sie bieten auch Weiterbildung für Führungskräfte an, kümmern sich um Fragen der Arbeitsethik oder auch der medizinischen Ethik. Sehen Sie, dass wirklich neue Fragen gestellt werden, ein Bewusstsein für kommende, für neue Aufgaben entsteht, oder überwiegt der Wunsch, zu Vertrautem zurückzukommen?
„Nein, wir stellen eindeutig fest, dass die Menschen, die an unseren Programmen teilnehmen, eine hohe Sensibilität für viele neue gesellschaftliche Dynamiken und ethische Herausforderungen mitbringen, von denen sie sich nicht lähmen und deprimieren lassen wollen, sondern mit denen sie konstruktiv umgehen möchten. Dazu muss ich aber sagen, dass unsere Weiterbildungen zur Wirtschaftsethik, Medizinethik und Digitalethik bewusst sehr berufs- und hierarchieübergreifend besetzt sind: Hier arbeiten der Pfleger und die Chefärztin, der Konzernmanager und die Landwirtin oder die Wissenschaftlerin und der Eigentümerunternehmer auf Augenhöhe zusammen, vertiefen sich in die philosophischen Hintergründe alltäglicher Praktiken, tauschen Erkenntnisse und Erfahrungen aus und entwickeln gemeinsam Lösungen für ethische Herausforderungen ihres Alltags. Gerade diese Mischung erzeugt besonders differenzierte Einsichten und wirksame Lösungen. Wenn man das auf die Gesellschaft als Ganzes überträgt, bekommt dieser in Sonntagsreden beliebte Satz, dass Vielfalt und Dialog eine Chance sei, plötzlich eine konkrete und erlebbare Bedeutung.“

Wenn Sie einem Arbeitnehmer und einem Firmeninhaber oder einer Führungskraft im selben Gespräch die mittelfristige Zukunft und die daraus resultierenden Aufgaben schildern oder erklären müssten, was würden Sie sagen?
„Wenn Sie dabei an die gesamtwirtschaftliche Entwicklung denken, dann würde ich mich hierfür nicht zuständig fühlen. Ich bin kein Volkswirt und gestehe auch, dass ich die selbstbewusste Prognostik und die normativen Forderungskataloge, die aus dieser Berufsgruppe kommen, häufig als interessegeleitet und auch anmaßend erlebe.

Aber wenn die beiden von Ihnen genannten Menschen in ein und derselben Organisation arbeiten und sich fragen, wie sie ihre Zusammenarbeit wirkungsvoller, freudvoller und langfristig zukunftsfähig gestalten können, würde ich mit ihnen eine Reihe konkreter Fragen bearbeiten, etwa: Was verstehen beide Seiten unter ,guter Führung‘ und welche Freiheitsgrade, aber auch welche Ausrichtung und Orientierung erwarten sie in der alltäglichen Zusammenarbeit? Wie werden Entscheidungen getroffen und mit welchen partizipativen Entscheidungsmethoden lassen sich sowohl die Arbeitsergebnisse als auch die freudvolle Mitwirkung aller Beteiligten verbessern? Welche Erwartungen haben beide an ein faires Vergütungsmodell oder an die Organisationskultur und das alltägliche Miteinander? Wie lässt sich der soziale und ökologische Beitrag, den die Organisation zur Gesellschaft als Ganzes leistet, präzisieren und verbessern? Gerade diese letzte Frage gewinnt für immer mehr Menschen in der Arbeitswelt derzeit mit großer Geschwindigkeit an Bedeutung. Und trotz aller Greenwashing-Versuche bin ich sehr froh, dass diese zentrale Frage für die Zukunftsfähigkeit unserer Lebensform endlich kein Nischenthema mehr ist, sondern in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit rückt.“

„Wie respektvoll und wertschätzend wir uns behandeln, wie empathisch und interessiert wir die Bedürfnisse unserer Mitmenschen wahrnehmen und in unserem eigenen Handeln berücksichtigen, wie wir die Atmosphäre unserer Zusammenarbeit gestalten, all das sind soziale und moralische Fragen, die wir nicht gesetzlich regeln können, sondern die wir nur aktiv und freiwillig kultivieren können.“

Arbeitsrechtlich kommen die Veränderungen erst an, wenn zum einen die Neuerungen in Gesetze festgeschrieben werden und wenn dann über Gerichtsverfahren die Inhalte auch ausformuliert werden. Über was werden die Gerichte mittelfristig zu entscheiden haben, sind es mehr formale Fragen nach Arbeitszeiten, Arbeitsort et cetera oder wird auch grundsätzlich eine Neuordnung von Arbeit und ihrem Wert festgeschrieben werden, so, wie es inzwischen klar sein sollte, dass für die gleiche Arbeit der gleiche Lohn gezahlt werden muss, unabhängig vom Geschlecht zum Beispiel?
„Auch hier halte ich mich mit Wunschdenken und Kaffeesatzleserei zurück, das ist nicht die Aufgabe der Philosophie. Aber ganz tagesaktuell dürfen wir ja feststellen, dass das Bundesarbeitsgericht soeben entschieden hat, dass Arbeitgeber eine gesetzliche Pflicht haben, die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten auf objektive, zugängliche und verlässliche Weise zu erfassen. Skurril an diesem Urteil ist, dass der Europäische Gerichtshof bereits im Mai 2019, also vor über drei Jahren, genau diese Rechtspflicht schon einmal formuliert hatte und die nationalen Regierungen aller Mitgliedsstaaten aufgefordert hat, dies in geltendes Recht umzusetzen. In Deutschland ist seitdem bislang nichts passiert. Insofern steht dieses Beispiel auch stellvertretend dafür, wie groß mittlerweile die Kluft zwischen der Veränderungsdynamik in einer zunehmend digitalisierten Wirtschaft und Arbeitswelt auf der einen Seite und dem Reaktionstempo von Judikative und Legislative auf der anderen Seite ist. Ich halte diese wachsende Kluft für problematisch, nicht zuletzt, weil sie das Vertrauen der Menschen in die Handlungsfähigkeit der zentralen demokratischen Institutionen schwächt. Das können wir uns, gerade in Deutschland, nicht erlauben.

Ebenso wichtig scheint mir jedoch, dass viele zentrale Fragen unseres alltäglichen Miteinanders und insbesondere unserer alltäglichen Zusammenarbeit letztlich nicht juristisch geregelt werden können. Wie respektvoll und wertschätzend wir uns behandeln, wie empathisch und interessiert wir die Bedürfnisse unserer Mitmenschen wahrnehmen und in unserem eigenen Handeln berücksichtigen, wie wir die Atmosphäre unserer Zusammenarbeit gestalten, all das sind soziale und moralische Fragen, die wir nicht gesetzlich regeln können, sondern die wir nur aktiv und freiwillig kultivieren können. Daher würde ich auch sagen: Eine der wichtigsten Aufgaben von Menschen, die Führungsaufgaben in Organisationen übernehmen, besteht darin, die Kultur dieser Organisation zu gestalten und das soziale Band zwischen allen Beteiligten zu stärken. Wie dies gelingen kann, ist eine zentrale und anspruchsvolle Frage für gute Führung.“

Der Interviewpartner

Dr. Philippe Merz ist Gründer und Geschäftsführer der Thales-Akademie für angewandte Philosophie mit Sitz in Freiburg. Die gemeinnützige Thales-Akademie ist eine weltanschaulich unabhängige Organisation, die es Fach- und Führungskräften ermöglicht, sich praxisnah zur Wirtschaftsethik, Medizinethik und Digitalethik weiterzubilden. Zudem bietet die Thales-Akademie Workshops und Seminare zu grundlegenden Herausforderungen der Organisationsentwicklung und Unternehmenskultur. www.thales-akademie.de