„Es ist schwer, zwischen Wahrheit und Fake News zu unterscheiden“

Ungarn

„Wir umarmen den Duft nach Freiheit unserer Universität“: Während der Besetzung der SZFE, der Universität für Theater und Filmkunst in Budapest, steht der Dramaturg Ármin Szabó-Székely Wache. Alle Bilder ©Ármin Szabó-Székely

Autorin: Katja Vaders
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán und seine rechtskonservative Partei Fidesz sorgen immer wieder für Sprengstoff im Europaparlament. Aktuell diskutiert eine EU-Kommission das vor Kurzem in Ungarn erlassene LGBT-Propaganda-Gesetz; auch die Kunst- und Kulturszene des Landes sieht sich immer mehr Restriktionen des Staates gegenübergestellt. FT sprach mit dem Theaterdramaturgen Ármin Szabó-Székely über die Hintergründe und die anstehende Parlamentswahl im April 2022.

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FT: Ármin, du lebst und arbeitest in Budapest. Hier wirst du immer wieder mit den neuen Gesetzen und Skandalen des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán und seiner Fidesz-Partei konfrontiert. Kannst du versuchen zusammenzufassen, was sich in Ungarn seit der Regierungsübernahme der Fidesz im Jahr 2010 verändert hat?
„Bei ihrer ersten Wahl 2010 hat die Fidesz-Partei mit einer Zweidrittelmehrheit gewonnen. Dadurch konnten sie die Verfassung umschreiben – dafür braucht man in Ungarn diese Zweidrittelmehrheit im Parlament.
Die Fidesz haben sofort nach der Wahl von ihrer Macht Gebrauch gemacht und tun das immer wieder. Inzwischen haben sie bereits neun Male die Verfassung geändert, aktuell übrigens auch, um dieses LGBT-Propaganda-Gesetz zu erlassen. (Anm. d. Red.: Seit 2021 sind jegliche öffentliche Aufklärung über Homosexualität oder Transgender von Kindern und auch Werbespots mit homosexuellen Inhalten verboten) Daher wird sich auch wahrscheinlich nicht viel ändern, wenn bei der Parlamentswahl im April nächsten Jahres eine andere Partei gewinnt: Die neue Regierung bräuchte ebenfalls eine Zweidrittelmehrheit, um all diese demokratiefeindlichen Gesetze wieder abzuschaffen.“

Wer ist denn überhaupt der politische Gegner bei der Parlamentswahl im nächsten April?
„Es gibt zwei Lager: die Fidesz und eine Koalition, die sich aus allen anderen Parteien zusammengeschlossen hat.“

Der Grund für diese Koalition ist wiederum eine Gesetzesänderung der Fidesz …
„Richtig. Die Fidesz haben das Wahlgesetz so geändert, dass die Opposition gezwungen war, diese Koalition zu bilden. Orbán sieht sie natürlich als Bedrohung, aber ein weiterer Grund, warum er die Bildung der Koalition begünstigt, ist seine Vorliebe für Schwarz-Weiß-Szenarien. Daher ist es gut für ihn, nur einen Gegner zu haben. Die Koalition wird nämlich gemeinsam einen Präsidentschaftskandidaten aufstellen und genau das deckt sich mit Orbáns Strategie. Der Wahlkampf wird dann ähnlich ablaufen wie in den USA, wo ja auch nur zwei Kandidaten gegeneinander antreten. Die Fidesz werden ihre Fake-News-Medien-Maschine anschmeißen, die absurde Geschichten über den Kandidaten der Koalition platzieren wird. Das hatten wir schon oft in den letzten Jahren. Es gibt immer nur zwei Positionen: die der Fidesz und die der Opposition. Manchmal ist es schwer, zwischen Wahrheit und Fake News zu unterscheiden.“

Gibt es denn überhaupt noch eine unabhängige Presse in Ungarn, der man Glauben schenken kann?
„Die gibt es, darunter auch Zeitungen, Online-Magazine und einen TV-Sender. Aber leider lassen sich die meisten Ungarn von den Nachrichten im Fernsehen beeinflussen, das zum großen Teil von den Fidesz kontrolliert wird – staatliches Fernsehen wie auch kommerzielle Sender. Das Problem ist, dass Ungarn extrem polarisiert ist: Wenn die unabhängige Presse kritisch gegen Orbán berichtet, geht das für viele gegen die Regierung und damit auch gegen Ungarn.“

„Orbán hält die Löhne niedrig, sodass zum Beispiel Deutschland gerne in Ungarn produzieren lässt. Und die Fidesz avancieren in Ungarn zu einer Art wirtschaftlicher Mafia, die das Land immer mehr übernehmen.“

Das hört sich so an, als müsse man die ausländische Presse lesen, um überhaupt verstehen zu können, was wirklich vor sich geht.
„Ja, oder du musst in die Themen involviert sein, um sie zu verstehen. Für mich war bei den Skandalen in der Theaterlandschaft oder dem aktuellen LGBT-Gesetz schnell klar, was wirklich vor sich geht. Für Außenstehende ist das nicht so leicht.“

Du sprichst die Skandale in der Budapester Theaterszene an. Was meinst du damit?
„Die Fidesz haben in den letzten Jahren Schritt für Schritt alles zentralisiert: Wirtschaft, Medien, Bildung … Jetzt ist es oben auf Orbáns Agenda, die Kulturlandschaft zu kontrollieren: Kulturkampf. Daher fing die Regierung an, alle Theater und Institutionen anzugreifen, die sie als liberal oder linksgerichtete Orte labeln. Es gab einen Me-too-Skandal an einem der prestigeträchtigsten Theater Ungarns, dem Katona József Theater, das von den Fidesz als ,Ort der Opposition‘ bezeichnet wird. Ein Regisseur hatte eine Schauspielerin belästigt und wurde daraufhin sofort entlassen. Die Regierungspresse machte daraus eine große Geschichte und diskreditierte gleich alle liberalen Theater und Institutionen. Auch die Theateruniversität war involviert, an der der entlassene Regisseur unterrichtet hatte. Man behauptete, dass in allen liberalen Theatern ständig Schauspielerinnen belästigt werden würden.“

Waren diese Fake News die Begründung für eine erneute Gesetzesänderung?
„Genau. Anschließend wollten die Fidesz ein Gesetz zu Kulturförderungen ändern, das Independent-Theatern staatliche Subventionen zusicherte. Letzten Sommer entnahm die Leitung der Theateruniversität dann der Presse, dass die Regierung die Verantwortung und Organisation von Personal- und Finanzierungsfragen einem privaten Komitee unter der Leitung von Attila Vidnyánszky, ein regierungsnaher Theaterregisseur und Intendant, übergeben will. So läuft das immer bei den Fidesz: Man wird vor vollendete Tatsachen gestellt. Fast das gesamte Personal der Theateruniversität verlor seine Funktionen, alle Verantwortlichkeiten gingen an das Kuratorium über, das aus fünf Personen besteht, neben Vidnyánszky ein Schauspieler des Nationaltheaters, ein Kameramann und zwei Geschäftsleute, die alle den Fidesz nahestehen. Ihre Positionen – und jetzt kommt es – werden alle Mitglieder des Kuratoriums auf Lebenszeit innehaben.“

Das hört sich an, als würden wir über Nordkorea sprechen!
„Es ist unglaublich genug, dass eine staatliche Universität komplett in die Verantwortung eines privaten Komitees übergegangen ist. Kurze Zeit später kam jedoch heraus, dass die Fidesz das Gleiche mit fast allen anderen Universitäten in Ungarn vorhaben. Inzwischen gibt es nur noch drei oder vier Hochschulen, die staatlich finanziert werden. Alle anderen unterstehen privaten Kuratorien, in denen Menschen sitzen, die eindeutig in Verbindung mit den Fidesz stehen. Ein paar von ihnen sind sogar Regierungspolitiker und alle haben ihre Ämter auf Lebenszeit.“

Aber Ungarn ist doch Mitglied der EU! Wie kann es sein, dass Brüssel bei solchen Aktionen einfach nur zuschaut?
„Es ist ähnlich bei diesem neuen LBGT-Gesetz. Meiner Meinung nach hat Orbán es nur erlassen, um eine Kampagne der EU zu provozieren. Was die Fidesz im Wahlkampf brauchen, ist ein Feind. Bei der letzten Wahl waren es George Soros, Migranten und Flüchtlinge, jetzt ist es die EU. Orbán will den Wählern weismachen, dass Brüssel Ungarn attackiert und sich in die Belange des Landes einmischt. Und er rettet dann die ungarischen Werte. Ich glaube, nicht, dass Homophobie der wahre Grund ist.“

Hast du als Mitglied der LGBT-Community nicht den Eindruck, dass die ungarische Regierung homophob ist?
„Zumindest war Homophobie zuvor noch nie ein Thema. Natürlich wird es Politiker geben, die homophob sind – und mit Sicherheit sind darunter auch ein paar heimliche Homosexuelle –, aber die Situation in Ungarn ist noch nicht mit der in Polen vergleichbar, wo große Kampagnen gegen LGBT-Personen laufen. Natürlich wurde das LGBT-Gesetz auch erlassen, weil man die traditionellen und konservativen Werte stärken möchte. Bei den Wählern soll aber auch ankommen, dass man die Fidesz wählen muss, um die Kinder vor Brüssel zu schützen. Es ist Teil der ungarischen Geschichte, sich gegen große Feinde aufzulehnen: das Osmanische Reich, die österreichische Monarchie, die UdSSR und jetzt eben die EU. Orbán möchte eine Art Widerstand konstruieren.“

Dabei profitiert das Land doch sehr von der EU, vor allem finanziell …
„Natürlich. Aber das gilt für beide Seiten. Auch wenn man vordergründig ideologische Kämpfe ausficht, arbeitet man hintenrum doch zusammen und profitiert wirtschaftlich voneinander. Orbán hält die Löhne niedrig, sodass zum Beispiel Deutschland gerne in Ungarn produzieren lässt. Und die Fidesz avancieren in Ungarn zu einer Art wirtschaftlicher Mafia, die das Land immer mehr übernehmen.“

Ist es eigentlich gefährlich, so offen die Fidesz zu kritisieren?
„Nein, das ist es nicht. Aber wenn du Teil von etwas sein möchtest, das vom Staat gelenkt oder finanziert wird, solltest du dir gut überlegen, worüber du sprichst oder wogegen du protestierst. Was ich für viel gefährlicher halte, ist die Meinungsmache regierungsnaher Medien gegen die EU und wie es ihnen gelingt, die Bevölkerung zu manipulieren. Das verursacht im Land ein sehr klaustrophobisches Gefühl. Dass sie die Denkweise der Menschen verändern, eine Art Gehirnwäsche durchführen, wie mit diesem LGBT-Gesetz. Das entzweit sogar Familien. Ich persönlich lebe in einer Art Blase in der Kunst- und Theaterszene in Budapest. Obwohl Orbán sagt, dass Ungarn kein multikulturelles Land sein möchte, gilt das nicht für Budapest, das schon immer eine linke Stadt war, in der Menschen aus aller Welt leben, ein diverser und interessanter Ort – aber dann ist da eben noch der Rest des Landes. Natürlich gibt es auch in ländlicheren Regionen offene Orte und Menschen, aber ein Großteil ist sehr stark von den Fidesz beeinflusst.“

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„Es ist ähnlich bei diesem neuen LBGT-Gesetz. Meiner Meinung nach hat Orbán es nur erlassen, um eine Kampagne der EU zu provozieren. Was die Fidesz im Wahlkampf brauchen, ist ein Feind.“

Aber es gibt auch immer mehr Menschen, die sich gegen Viktor Orbáns Regime auflehnen. Gegen die Neuorganisation der Theateruniversität gab es im letzten Jahr beispielsweise eine große Protestaktion.

#Free SZFE: Die Studenten der Budapester Theateruniversität erfuhren viel Solidarität, auch aus der eigenen Familie. Ármin Szabó-Székely mit seiner Mutter und seiner Schwester bei Protesten während der Blockade.

„Ja, das war eine großartige Sache. Die Studenten besetzten die Universität 71 Tage lang, von August bis November, die Blockade musste dann leider wegen Corona beendet werden. Dafür gab es viel internationale Solidarität, auch von großen Stars wie Cate Blanchett. Die Studenten haben das ganz allein und unglaublich gut organisiert, über jeden Schritt wurde basisdemokratisch entschieden. In Ungarn war das Ganze sehr groß in den Medien. Ich selbst war zu der Zeit Doktorand und stand daher ein bisschen zwischen den Lehrern und den Studenten, aber fühlte mich den Protestlern trotzdem sehr verbunden. Die tollste Erfahrung für mich war, dass diese jungen Studenten, die unter dem Einfluss der Fidesz groß geworden sind, trotzdem wussten, wie Demokratie funktioniert. Das hat mir viel Hoffnung für die Zukunft des Landes gegeben. Andererseits hat es mich zum Nachdenken gebracht, denn die Besetzung der Uni konnte ja nicht ihre Neuorganisation verhindern. Egal wie viel man in einen Protest steckt: Im Endeffekt macht die Regierung doch das, was sie will – weil sie es kann.“

Die Proteste haben also deiner Meinung nach nichts gebracht?
„Doch, denn sie haben einen großen Zusammenhalt und vor allem eine Politisierung innerhalb der ungarischen Kulturlandschaft verursacht. Bei dem Protest sind alle gemeinsam aufgestanden und haben sich solidarisiert! Dazu fand ich toll, dass die jungen Menschen den Älteren eine Alternative für unser Land aufgezeigt haben. Außerdem haben die Studenten eine Bewegung gegründet, die sich dafür einsetzt, dass alle Studenten ihr Diplom machen können. Einige Klassen haben sich nämlich entschlossen, ihr Studium nach der Übernahme nicht an dieser Institution weiterzuführen. Nun stehen sie mit Universitäten im Ausland in Verbindung, die diesen Studenten ihre Abschlüsse ermöglichen werden.“

Wenn man das alles hört, fragt man sich, warum Orbán immer noch so beliebt ist.
„Er arbeitet wie gesagt mit Feindbildern, und das funktioniert. Es ist ja auch tatsächlich so, dass nicht alle Maßnahmen der EU in Ungarn funktionieren. Nehmen wir zum Beispiel das Flüchtlingsthema: Einige Länder in Osteuropa sind noch nicht dazu bereit, ein Immigrationsland zu werden, weder ideologisch noch finanziell. Daher ist es ein Leichtes für Orbán, die Menschen gegen die EU aufzubringen. Ungarn hat noch keinerlei Erfahrungen mit Einwanderern, einige Ungarn leben isoliert, sprechen keine Fremdsprachen und reisen kaum. Und dann zeigen die von den Fidesz gesteuerten Medien, dass es in Deutschland oder Frankreich viele Probleme mit Migranten gibt, und nutzen das im Wahlkampf: ,Wenn ihr nicht uns wählt, wird auch Ungarn solche Probleme bekommen.‘“

Gibt es denn überhaupt eine Chance für einen Machtwechsel in Ungarn? Wie ist deine Prognose für die Parlamentswahl im April 2022?
„Ein großer Teil der Ungarn geht erst gar nicht wählen. Laut Umfragen wählt von den Übrigen ungefähr ein Drittel die Fidesz, ein weiteres Drittel gibt seine Stimme der Opposition und das letzte Drittel hat bis jetzt noch keine Entscheidung getroffen. Wie die Wahl wirklich ausgeht, hängt meiner Meinung nach stark mit dem Präsidentschaftskandidaten der Opposition zusammen. Es wird eine Vorwahl mit drei oder vier Kandidaten geben, aber schon jetzt wird vonseiten der Fidesz-Medien Stimmung gegen sie gemacht.“

Welche Parteien gehören der Koalition an?
„Dazu gehören alle Parteien, die nicht Fidesz sind – aus allen politischen Lagern, von links über rechtskonservativ bis zu rechtsextrem.“

Also gibt es auch in der Koalition Gegner der EU. Könnte es irgendwann zu einem Austritt Ungarns kommen?
„Natürlich gibt es Stimmen, die behaupten, die EU würde Ungarn kolonialisieren und den Austritt fordern, aber das ist nur eine Minderheit. Die meisten, auch bei den Fidesz, wollen in der EU bleiben. Da stehen die wirtschaftlichen Interessen einfach im Vordergrund. Zusätzlich orientiert sich Orbán momentan sehr an China und Russland, für die es interessant ist, einen Allianzpartner in der EU zu haben.

Das Schlimme ist, dass sich bei einem Wahlsieg der Opposition nicht auf einen Schlag alles ändern würde. Dafür haben die Fidesz nicht nur mit ihren Verfassungsänderungen gesorgt – durch die Übergabe der Universitäten und anderer Institutionen an regierungsnahe, private Kuratorien bleiben sie unter dem Einfluss von Viktor Orbán, der sein Netzwerk an allen wichtigen Stellen positioniert hat. So wird er auch bei einer Wahlniederlage die Macht behalten.“

Wir werden auf jeden Fall mit Spannung auf die nächste Parlamentswahl schauen. Vielen Dank für das interessante Gespräch!  

Ármin Szabó-Székely wurde in einer kleinen Stadt in Ungarn geboren, zog aber nach wenigen Jahren mit seinen Eltern nach Budapest und lebt dort bis heute. Er studierte Dramaturgie an der dortigen Universität für Theater und Filmkunst und arbeitet hauptsächlich an den verschiedenen Staatstheatern in Budapest sowie für internationale Contemporary-Dance-Produktionen, die ihn auch immer wieder nach Deutschland oder Italien bringen.

Ungarn trat im Jahr 2004 im Rahmen der sogenannten Osterweiterung der EU bei. Seit 2010 wird das Land von der rechtsnationalen Partei Fidesz regiert, an deren Spitze Ministerpräsident Viktor Orbán steht. Gegen den Rechtspopulisten werden immer wieder Vorwürfe erhoben, in Ungarn systematisch die Menschenrechte einzuschränken. Jüngst erregte die Fidesz-Regierung international Aufsehen durch ein neues Gesetz, das die mediale Darstellung von Homo- und Transsexualität gegenüber Minderjährigen verbietet. Eine EU-Kommission will nun prüfen, ob es gegen geltendes EU-Recht verstößt. Viktor Orbán selbst hat ein Referendum über das umstrittene Gesetz angekündigt.