„Es gibt etliche Stellschrauben“ 

Grundsicherung 

„Klar ist, dass sich für Menschen im unteren Einkommensbereich eine Verschlechterung der realen Lebenssituation in 2022 gegenüber 2021 ergeben hat und ich rechne nicht mit einer Entspannung im laufenden Jahr." Dr. Irene Becker ©AnnieSpratt/pixabay

Autorin: Eva Westhoff
Hartz IV ist Geschichte. Mit der Einführung des Bürgergelds am 1. Januar 2023 hat die Bundesregierung ein zentrales Versprechen vorgeblich eingelöst. Als „große Sozialreform“ bezeichnete Bundesarbeitsminister Hubertus Heil das Bürgergeld-Gesetz in einer Bundestagsrede. Ob das stimmt? Wir haben Dr. Irene Becker, freiberufliche Wissenschaftlerin in der empirischen Verteilungsforschung, gefragt. Ihr Urteil fällt differenziert aus.  

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Tatsächlich wurden mit dem Jahreswechsel die Regelsätze der Sozialleistungen erhöht. Ein alleinstehender Erwachsener etwa erhält nun 502 Euro – eine Erhöhung um 53 Euro im Vergleich zum 2022 geltenden Regelsatz des Arbeitslosengelds II, wie Hartz IV ja von Amts wegen genannt wurde. Andere Bestandteile des Bürgergeld-Gesetzes treten erst zum 1. Juli 2023 in Kraft, darunter neue Freibeträge für das Einkommen.  

Das Bürgergeld ist aber nicht nur eine Leistung der Grundsicherung für Arbeitssuchende. Auch wer zuvor Anspruch auf Sozialgeld hatte, kann nun Bürgergeld erhalten – also auch nicht erwerbsfähige Personen wie beispielsweise Kinder. Laut Statista legen die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit nahe, dass in diesem Jahr durchschnittlich über fünf Millionen Menschen zu den Leistungsempfängern zählen werden.  

Der Armutsbericht 2022 des Paritätischen weist für das Jahr 2021 eine Armutsquote von 16,9 Prozent aus. Dabei gilt jede Person als einkommensarm, die mit ihrem Einkommen unter 60 Prozent des mittleren Einkommens liegt.

Der Regelsatz zur Sicherung des Lebensunterhalts oder sogenannte Regelbedarf setzt sich zusammen aus Aufwendungen für Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Haushaltsenergie und sogenannten persönlichen Bedürfnissen. Für Kleidung und Schuhe sind im Regelsatz 41,65 Euro vorgesehen. Zusätzlich zum Geldbetrag des Regelsatzes zahlt das Jobcenter die gemäß Sozialgesetzbuch angemessenen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung. Während einer einjährigen Karenzzeit werden die Kosten für das Wohnen in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen übernommen. Weitere Mehrbedarfe, die angemeldet werden können, betreffen unter anderem Schwangere und Schüler. 

Wie im Grundgesetz verankert, sichere das Bürgergeld das wirtschaftliche Existenzminimum und ermögliche eine Teilhabe am kulturellen und sozialen Leben, heißt es seitens des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Was ist von dieser Aussage zu halten – gerade in Zeiten gestiegener Energie- und Lebensmittelpreise? Ein Interview mit Dr. Irene Becker, freiberufliche Wissenschaftlerin in der empirischen Verteilungsforschung. Die promovierte Volkswirtin beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Fragen der Einkommens- und Vermögensverteilung mit dem Fokus auf Armut und Reichtum sowie der Regelbedarfsermittlung. Diese erfolgt in der Regel alle fünf Jahre auf Basis der Einkommens- und Verbrauchsstichproben (EVS).  

Das Armutsproblem habe „sich über Jahrzehnte verfestigt“, sagt Dr. Irene Becker. Der Armutsbericht 2022 des Paritätischen weist für das Jahr 2021 eine Armutsquote von 16,9 Prozent aus. Dabei gilt jede Person als einkommensarm, die mit ihrem Einkommen unter 60 Prozent des mittleren Einkommens liegt. Dies traf 2021 auf 14,1 Millionen Menschen zu, 840.000 mehr als vor der Pandemie, und das bedeutet, wie der Bericht feststellt, einen neuen Höchststand.  

„Letztendlich führt das aktuelle Verfahren zu einer systematischen Bedarfsunterdeckung.“ Dr. Irene Becker. Foto ©privat

FT: Frau Dr. Becker, im Oktober 2022 hat Ihnen der Deutsche Gewerkschaftsbund den Auftrag erteilt, die Folgen des Anstiegs der Verbraucherpreise zu untersuchen und zu ermitteln, ob und in welcher Höhe Grundsicherungsbeziehende durch unzureichende Anpassungen der Regelbedarfe seit 2018 reale Einbußen hinnehmen mussten. Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?
Dr. Irene Becker: „Reale Einbußen ergeben sich nicht nur bei inflationären Entwicklungen, sondern auch infolge struktureller Veränderungen, die immer erst rückblickend – wenn eine neue Datenbasis verfügbar ist – erkannt werden können. Letztere Ursache hatte im Zeitraum 2018 bis 2020 erhebliche negative Folgen. Derartige Defizite lassen sich zwar nicht vollständig vermeiden, weil Daten immer zeitverzögert vorgelegt werden. Sie könnten aber rückwirkend ausgeglichen werden. Wenn der Gesetzgeber eine entsprechende Vorschrift erlassen hätte, kämen beispielsweise Alleinerziehenden mit einem zehnjährigen Kind für die Jahre 2018 und 2019 jeweils gut 800 Euro und für 2020 etwa 720 Euro zugute.  

Von 2020 bis Ende 2022 zeigen sich dann reale Minderungen der Zahlungen der Grundsicherungsträger infolge des zunächst noch mäßigen, dann aber beschleunigten Anstiegs des regelbedarfsrelevanten Preisindex. Dieser spezielle Index ist nicht mit dem allgemeinen Verbraucherpreisindex zu verwechseln, da der Regelbedarf ohne Kosten für Unterkunft und Heizung und nach Streichung verschiedener Konsumgüter durch den Gesetzgeber definiert ist. Für 2021 und 2022 belaufen sich die Realwerteinbußen beispielsweise auf 743 Euro insgesamt für Alleinstehende. Sie werden durch Maßnahmen der Bundesregierung zwar verringert, aber nicht gänzlich kompensiert. Wenn die 2022 erfolgte Einmalzahlung von 100 Euro pro Erwachsenen in Bedarfsgemeinschaften gegengerechnet wird, verbleibt für Alleinstehende ein Nettodefizit von 643 Euro beziehungsweise von 475 Euro nur für 2022. Für Grundsicherungsbeziehende, die ein Erwerbseinkommen oder eine Rente aufstocken und somit Anspruch auf die Energiepreispauschale von 300 Euro haben, reduziert sich das Nettodefizit immerhin auf 343 Euro beziehungsweise 175 Euro nur im Jahr 2022. Für Familien fallen die realen Einbußen aber höher aus – auch im Falle des Anspruchs auf die Energiepreispauschale, da diese unabhängig von der Kinderzahl ist. Wenn wir beim Beispiel von Alleinerziehenden mit einem zehnjährigen Kind bleiben, sind es 758 Euro beziehungsweise 474 Euro nur für 2022.“  

Zum 1. Januar 2023 hat das Bürgergeld das Arbeitslosengeld II abgelöst. Damit verbunden ist unter anderem eine Anhebung der Regelsätze. Ein alleinstehender Erwachsener etwa erhält nun 502 Euro, das sind 53 Euro mehr als zuvor. Reicht diese Erhöhung aus?
„Nein. Die Erhöhung gleicht den Preisanstieg seit Januar 2021 nicht vollständig aus. Den Regelbedarfen von 2021 lag zwar eine aktuellere Datenbasis zugrunde als denen von 2020. Bis zum Jahresende 2022 ist der regelbedarfsrelevante Preisindex aber um etwa 17 Prozent gestiegen. Dementsprechend hätte der Betrag für Alleinstehende 522 Euro betragen müssen, um reale Einkommensverluste von Bürgergeldbeziehenden auszugleichen; dies gilt übrigens gleichermaßen für Menschen mit Bezug von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Für Januar ergibt sich also schon ein Defizit von 20 Euro. Da der maßgebliche Preisindex in den ersten beiden Monaten dieses Jahres nochmals deutlich gestiegen ist, wären im März sogar 534 Euro – also 32 Euro mehr als derzeit – erforderlich gewesen, um die Folgen der Inflation zu kompensieren. Das Bürgergeld hat also nicht zu einer Verbesserung des Lebensstandards geführt, obwohl Herr Heil das vor nicht allzu langer Zeit mal angekündigt hatte.“ 

In Deutschland gibt es ein Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum. Doch die Regelbedarfsermittlung auf Basis der alle fünf Jahre durchgeführten Einkommens- und Verbrauchsstichproben (EVS) durch das Statistische Bundesamt ist umstritten und wird auch von Ihnen kritisiert. Weshalb? 
„Meine Kritik und die Einwendungen auch von juristischer Seite und von Wohlfahrtsverbänden richten sich nicht gegen die Verwendung der EVS, sondern gegen die Art der Auswertung dieser Daten. Die Bundesregierung bezeichnet die per Gesetz vorgeschriebene Methode als Statistikmodell, dabei werden aber zentrale Grundsätze eben dieses Konzepts verletzt. Einer der wesentlichsten Kritikpunkte bezieht sich auf die Bestimmung der sogenannten Referenzgruppe, von deren Ausgaben auf das soziokulturelle Existenzminimum geschlossen wird. Die Abgrenzung erfolgt ohne jegliche Prüfung, ob das Konsumniveau der Referenzgruppe gesellschaftliche Teilhabe überhaupt ermöglicht. Zudem schließen die Referenzgruppen auch Haushalte mit aufstockendem Leistungsbezug und diejenigen, die zustehende Leistungen nicht in Anspruch nehmen (verdeckte Armut), ein – hier sind also Zirkelschlüsse angelegt.  

Die zweite hauptsächliche Kritik richtet sich gegen die normativ begründete Streichung einzelner Ausgaben aus dem Referenzkonsum. Dies ist mit der Methode unvereinbar, weil das Statistikmodell nur unter der Bedingung des internen Ausgleichs zu sachgerechten Ergebnissen führen kann. Diese Bedingung besagt, dass im Einzelfall überdurchschnittliche Bedarfe durch an anderer Stelle unterdurchschnittliche Bedarfe tendenziell kompensiert werden – das funktioniert aber nicht, wenn Teile der Konsumausgaben einfach herausgestrichen werden. Letztendlich führt das aktuelle Verfahren zu einer systematischen Bedarfsunterdeckung.“  

„Strukturelle Ursachen von Armut könnten durch eine Bildungspolitik mit dem vorrangigen Ziel von mehr Chancengerechtigkeit angegangen werden.“  

Wie lässt sich der faktische Bedarf ermitteln und wie Konsumteilhabe auch unter dem Aspekt gesellschaftlicher Teilhabe sichern?
„Eine zielgerichtete Reform der Regelbedarfsermittlung müsste sowohl methodisch sauber sein als selbstverständlich auch dem Gesetzgeber einen Ermessensspielraum, der ihm verfassungsrechtlich zusteht, belassen. Dies ist durchaus möglich, wobei beide Ebenen strikt zu trennen sind. Zunächst wäre wertend zu diskutieren und vom Gesetzgeber transparent zu entscheiden, wie weit das zu sichernde Existenzminimum hinter dem Lebensstandard in der gesellschaftlichen Mitte höchstens zurückbleiben darf, um ein Mindestmaß an Teilhabemöglichkeiten zu gewährleisten – beispielsweise um 25 Prozent bei den Grundbedarfen und um 40 Prozent bei den soziokulturellen Bedarfen. Auf der statistischen Ebene würde dann geprüft werden, ob sich eine entsprechende Referenzgruppe – ohne Bürgergeld- und Grundsicherungsbeziehende und ohne verdeckte Armut – findet und gegebenenfalls, wie hoch die maßgeblichen Konsumausgaben, also insbesondere ohne Kosten der Unterkunft und Heizung, ausfallen. Meines Erachtens wären auch die Stromkosten und Anschaffungen von Haushaltsgroßgeräten auszuklammern und im Bedarfsfall in tatsächlicher Höhe zu erstatten. Ein derartiges Konzept entspricht einem wirklichen Statistikmodell. Keinesfalls dürften normativ – beziehungsweise aus meiner Sicht willkürliche, inhaltlich nicht nachvollziehbare – Kürzungen der Referenzausgaben vorgenommen werden.“  

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Neben der Erhöhung der Regelsätze sind mit dem Bürgergeld weitere Änderungen verbunden. Wie beurteilen Sie diese?
„Teilweise durchaus positiv, da damit Möglichkeiten zu wirklichen Verbesserungen geschaffen wurden. So begrüße ich die erleichterten Zugänge zum Bürgergeld hinsichtlich der Wohnkosten und des anzurechnenden Vermögens – innerhalb einer einjährigen Karenzzeit werden Überprüfungen der Angemessenheit beziehungsweise der Erheblichkeit weitgehend ausgesetzt, die Vermögensfreibeträge erhöht. Da hat man im Prinzip an Maßnahmen angeknüpft, die schon während der Corona-Pandemie eingeführt wurden. Diese Änderungen könnten das Ausmaß der verdeckten Armut verringern, das derzeit gravierend ist – nach vorliegenden Schätzungen haben bisher etwa 40 Prozent der Menschen mit Anspruch auf Grundsicherung diesen nicht wahrgenommen. Die Gründe sind vielfältig. Neben fehlenden oder falschen Informationen spielen Stigmatisierungsängste eine große Rolle, aber auch die Sorge, wegen einer hohen Miete aus der Wohnung zu müssen, oder die Annahme, jegliche Rücklagen zunächst aufbrauchen zu müssen. Dem wirken die Neuregelungen entgegen.  

Ebenfalls positiv werte ich den leicht erhöhten Erwerbstätigenfreibetrag – obwohl da noch Luft nach oben ist – und das Weiterbildungsgeld beziehungsweise den Bürgergeldbonus, um Bildungsanstrengungen zu honorieren. Besonders wichtig ist aus meiner Sicht die Abschaffung des Vermittlungsvorrangs. Es soll also nicht mehr darum gehen, die Menschen möglichst schnell in irgendeinen Job zu vermitteln. Stattdessen wird erst mal geschaut, wo die Potenziale der Arbeitslosen liegen, um diese dann zu fördern. 

Das sind positive Ansatzpunkte, hinsichtlich der Effektivität bin ich aber teilweise skeptisch. Beispielsweise kann die Ersetzung der Eingliederungsvereinbarung durch einen Kooperationsplan nur zu Verbesserungen führen, wenn die Jobcenter auch Möglichkeiten haben, mehr Personal für eine gute Beratung einzustellen. Dafür sind meines Wissens keine Mittel vorgesehen.  

Grundsätzlich kritisch sehe ich zudem das weitgehende Festhalten an der Sanktionspraxis. Neuerdings heißen die Maßnahmen ‚Leistungsminderungen‘, die aber auch künftig einen immensen Druck auf Bürgergeldbeziehende ausüben, der stigmatisierend, häufig lähmend und gesundheitsschädlich ist. Dies muss auch hinsichtlich der nach wie vor unzulänglichen Höhe der Regelbedarfe angenommen werden.“  

In der aktualisierten Auflage seines Armutsberichts 2022 vom März 2023 weist der Paritätische Gesamtverband eine Armutsquote von 16,9 Prozent für das Jahr 2021 aus. Dies sei ein „trauriger Höchststand“. Angesichts der aktuellen Inflation rechne man mit einer weiteren Verschärfung der Lage, heißt es weiter. Teilen Sie diesen Pessimismus?
„Über die künftige Entwicklung will ich nicht spekulieren, derzeit gibt es zu viele Unwägbarkeiten. Klar ist, dass sich für Menschen im unteren Einkommensbereich eine Verschlechterung der realen Lebenssituation in 2022 gegenüber 2021 ergeben hat – darüber haben wir ja schon gesprochen –, und ich rechne nicht mit einer Entspannung im laufenden Jahr. Zwar könnte bei den Energiepreisen eine Abwärtsentwicklung einsetzen. Der Preisauftrieb bei den Nahrungsmitteln hat sich aber fortgesetzt – die Teuerungsrate gegenüber dem Vorjahresmonat lag im April bei 22,3 Prozent – und in anderen Bereichen könnten Verteuerungen erst noch einsetzen. Die Entwicklung des Verbraucherpreisindex insgesamt und speziell für untere Einkommensgruppen ist also ungewiss.  

Zudem ist derzeit kaum absehbar, ob und inwieweit sich die Preisentwicklungen in der vom Paritätischen dokumentierten konventionellen Quote relativer Einkommensarmut niederschlagen. Denn diese Quote bezieht sich auf Nominaleinkommen, die Inflation geht nicht direkt ein. Problematische Entwicklungen werden also möglicherweise nicht vollständig sichtbar. Deshalb sollten wir neben der gängigen Armutsquote auch die Konsumausgaben nicht nur unterhalb der konventionellen Armutsgrenze, sondern im gesamten unteren Einkommensbereich als ergänzende Indikatoren in den Blick nehmen, um inflationsbedingte Verschlechterungen von Teilhabemöglichkeiten zu erkennen. So sollte beobachtet werden, ob die Inflation bei Niedrigeinkommen zu Einschränkungen bei der Ernährung geführt hat und inwieweit bei anderen Bedarfen – zum Beispiel bei der Bekleidung, bei bildungsrelevanten und Freizeitaktivitäten – verzichtet werden musste. Das Ausmaß von Verarmungen könnte letztlich über das von der Armutsquote indizierte Maß hinausgehen.“  

Welche Möglichkeiten für Reformen sehen Sie, um den aktuellen und möglicherweise zunehmenden Inflationsfolgen sowie dem Armutsproblem generell entgegenzuwirken? 
„Zunächst sollten die Dynamisierungsregeln von Mindestsicherungsleistungen dahingehend reformiert werden, dass unterjährige außerordentliche Anpassungen möglich sind. Wichtig wäre auch eine stärkere Differenzierung von ‚Entlastungspaketen‘ nach Einkommensgruppen. Denn die Auswirkungen der Preisschübe auf Bedarfsdeckung und Teilhabemöglichkeiten sind höchst unterschiedlich: Abgesehen von schichtspezifischen Konsumstrukturen fehlt es im Niedrigeinkommensbereich an jeglichen Puffern für die aktuelle Verteuerung der Grundgüter. Demgegenüber bestehen in höheren Schichten durchaus Möglichkeiten, den gewohnten Lebensstandard trotz großer Preissteigerungen bei den Grundgütern beizubehalten – allein schon durch leicht vermindertes Sparen oder durch kleine Rücknahmen bei Restaurantbesuchen oder Reisen.  

Eine Konzentration von Maßnahmen zur Abfederung von Preissteigerungen auf vulnerable Gruppen ergibt sich auch aus der Tatsache, dass eine Entlastung ‚der‘ Bürgerinnen und Bürger ohnehin illusionär ist. Denn der Staat als Gemeinschaft aller Bürgerinnen und Bürger kann keine generelle Kompensation leisten – die Belastung muss die Gesellschaft (aktuell oder im Falle von Schuldenfinanzierung künftig) tragen. Ein Armutsproblem hatten wir aber schon vor dem Einsetzen der inflationären Entwicklung, es hat sich über Jahrzehnte verfestigt. Neben der Möglichkeit, mit einem methodisch sauber ermittelten Bürgergeld- beziehungsweise Grundsicherungsniveau gegenzusteuern, gibt es etliche Stellschrauben.“

Welche Stellschrauben sehen Sie?
„Strukturelle Ursachen von Armut könnten durch eine Bildungspolitik mit dem vorrangigen Ziel von mehr Chancengerechtigkeit angegangen werden – Sie kennen entsprechende wiederkehrende Forderungen. Eine weitere Stellschraube ist die Infrastrukturpolitik generell. Und wir benötigen mehr bezahlbaren Wohnraum, zum Beispiel durch eine starke Ausweitung des sozialen Wohnungsbaus sowie eine Begrenzung der Bodenspekulation. Derartige Reformen dürften nicht durch den Verweis auf fiskalische Belastungen ausgebremst werden – eine stärkere Steuerbelastung der obersten Einkommensschichten und investive Schuldenaufnahme dürften kein Tabu sein. Eine zentrale Rolle sehe ich aber auch in der Arbeitsmarktpolitik, und zwar nicht nur seitens des Staates. Was nützen eine gute Bildung und die Ausbildung beispielsweise zu einer Pflegefachkraft, wenn die Entlohnung nicht reicht, um eine angemessene Wohnung zu bezahlen und eine Familie zu ernähren? Meines Erachtens gehört die derzeitige Entgeltstruktur auf den Prüfstand – hier wären die Tarifparteien gefordert, ein realistisches Arbeits- beziehungsweise Leistungsbewertungssystem zu entwickeln.“