Kontrollverlust

KOMMENTAR

Autorin: Katja Vaders

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Schon seit einigen Jahren lässt sich auf den Straßen der Republik ein Trend beobachten, der sich spätestens zu Coronazeiten manifestierte: Junge Männer tragen in der Schule und in ihrer Freizeit bevorzugt Jogging- und Trainingshosen. Karl Lagerfeld dreht sich mit Sicherheit im Grabe um – hatte er doch jedem einen Kontrollverlust über sein Leben bescheinigt, der sich morgens an seinem Kleiderschrank für eine Sporthose anstatt für eine Jeans oder eine Chino entscheidet.

Dabei hat das Kleidungsstück durchaus Tradition und blickt auf eine immerhin 100-jährige Geschichte zurück: Bereits in den 1920er-Jahren launchte die französische Marke le coq sportif die erste Jogginghose überhaupt. Zu Beginn des Siegeszuges der Streetwear Anfang der 1990er-Jahre war sie im Hip-Hop en vogue – was ihr sicherlich dabei half, Schritt für Schritt ihren Ruf als Textil „non grata“ abzulegen, um schließlich ihre heutige Akzeptanz zu erlangen.

Aber zurück zu den jungen Männern, die zum Beispiel eine adidas-Hose kombiniert mit einem Nike-Hoodie tragen, was ohne Zweifel sehr bequem, aber gleichzeitig wenig modisch inspiriert ist. Wie kam es dazu, dass sich einige Protagonisten der Generation Z so sehr an Sportswear und so wenig an Fashion orientieren? Liegt es vielleicht an ihrer großen Fitness-Affinität?

Laut einem globalen Report des neuseeländischen Fitness-Unternehmens LesMILLS, der auf der bisher größten Befragung zum Thema Fitness in den USA, Europa und Asien basiert, hat die Gen Z einen größeren Einfluss auf den Fitnessmarkt als jede Generation vor ihr. Insgesamt 36 Prozent der 16- bis 26-jährigen Befragten trainieren regelmäßig, 50 Prozent würden gerne damit anfangen. Da über die Hälfte von ihnen das Smartphone über fünf Stunden am Tag nutzt, ist es kein Wunder, dass auch der Anteil der Fitness-Influencer auf Social-Media-Kanälen wie Instagram oder TikTok in den letzten Jahren rasant gestiegen ist. 71 Prozent der Gen Zler nutzen die kostenlose digitale Plattform eines Fitness-Influencers für ihr Training im Fitnessstudio, 76 Prozent für ihre Home Work-outs.

Sport und Fitness sind also wichtiger Teil des Lifestyles der Generation Z. Viele junge Männer zeigen auf Social Media dementsprechend stolz ihre Waschbrettbäuche sowie Bi- und Trizepse. Dass dieser Lifestyle sich auch in ihrem Kleidungsstil ausdrückt, ist entsprechend wenig überraschend.

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Ein weiterer Grund für das Faible für diesen Style, der sich teilweise auch aus sehr hochwertiger Sportswear, Sneakern und Accessoires zusammensetzt, ist eventuell der Look von Profifußballern. Superstars wie Neymar Jr. oder Mbappé haben bei Instagram über 100 Millionen Follower. Und auch wenn sich viele dieser Spieler inzwischen bisweilen gerne in Fashion ablichten lassen, bleibt ihr lässiger Trainingslook, gerne kombiniert mit High Fashion Items, offenbar Vorbild für männliche Teenager, insbesondere aus den etwas weniger glamourösen Vorstädten. Hier avancierten demzufolge in den letzten Jahren vermehrt Luxusbrands zum Objekt der Begierde – ob BALENCIAGA, LOUIS VUITTON oder GUCCI: Die Sehnsucht nach Accessoires der altehrwürdigen Designer ist bei vielen groß. Sicherlich einer der Gründe, warum adidas im letzten Jahr erneut eine Kollabo mit GUCCI launchte.

Hinzu kommt, dass bei der Generation Z das Homeoffice ganz weit oben auf der Agenda steht, wenn es um Verhandlungen mit dem Arbeitgeber geht – nur etwas über 50 Prozent arbeiten dementsprechend regelmäßig im Büro. Zu Hause kann man dann ganz ungeniert im Jogginglook arbeiten und muss sich lediglich für die Videokonferenz Hemd und Sakko überwerfen.

Die Schule muss jedoch weiterhin vor Ort besucht werden. Jogginghosen sind hier aber offenbar nur bedingt gerne gesehen. Im letzten Jahr ging die Meldung über eine Schule in NRW durch die Presse, die einen Schüler nach Hause schickte, der in Trainingshose zum Unterricht erschienen war. Der Fall entfachte zahlreiche Diskussionen zum Thema, die sich um ein eventuelles Jogginghosenverbot an Lehranstalten drehten. Dieses ließe sich in Deutschland jedoch nicht durchsetzen, die Rechtsgrundlage fehlt. Der Gesetzgeber schützt hierzulande das Recht des Einzelnen auf Individualität und damit auf sein frei gewähltes Erscheinungsbild.

Gerade deshalb appelliere ich an die jungen Männer in Sportswear: Die Mode hat für euch noch so viel mehr zu bieten als einen uniformen Trainingslook. Selbst wenn dieser von immer mehr Streetwear- oder Fashion Brands aufgegriffen wird, die versuchen, ihn straßentauglich zu machen. Ein Blick auf die Pitti und die Trends der Branche geben Hoffnung: eine Rückbesinnung auf Tailoring, präzise geschneiderte Basics und Wolle, gerne auch in einem lässigen Fit. Mode sollte Spaß machen, Experimentieren ist erlaubt und das bereits erwähnte Recht auf Individualität darf sich dementsprechend gerne in etwas mehr Wagemut ausdrücken.