
So vieles wirkt unvollendet. Prozesse bleiben offen, Lösungen sind brüchig, Debatten fragmentiert. Trotzdem scheint der Druck enorm, stets klare Antworten parat zu haben, im Beruf genauso wie in der Politik, in sozialen Netzwerken, aber auch im Privaten. Wir sollen Haltung zeigen, Entscheidungen treffen, Visionen entwerfen und alles am besten sofort, ohne Zweifel.
Mich beschäftigt das. Mich beschäftigt das wirklich, weil ich selbst immer wieder merke, wie widersprüchlich diese Situation ist. Einerseits sehnen wir uns nach Sicherheit und Orientierung, andererseits zwingt uns die Welt geradezu dazu, mit Unsicherheit zu leben. Klimakrise, geopolitische Konflikte, technologische Umbrüche – vieles ist zu komplex, um es mit einer endgültigen Antwort zu versehen. Gerade deshalb glaube ich, dass wir einen anderen Mut brauchen, den Mut zum Unfertigen.
Unfertig zu sein, gilt bei uns meist als Mangel. Wir sprechen von halben Sachen, von unzufriedenstellenden Kompromissen. Doch genau in dieser Abwertung steckt meines Erachtens ein Missverständnis. Denn das Unfertige ist nicht Stillstand, sondern Bewegung. Es ist die Möglichkeit, einen Weg weiterzugehen, ohne das Ziel von vorherein zu kennen. Zwischenlösungen glänzen nicht. Sie wirken nicht heroisch, nicht revolutionär. Aber sie sind oft das, was Gesellschaften stabilisiert und Menschen handlungsfähig hält.
Wir sind es gewohnt, Mut mit großen Gesten zu verbinden, mit Entschlossenheit, Risiko, klarer Entscheidung. Aber Mut kann auch darin bestehen, ein Zwischenergebnis zu akzeptieren. Nicht sofort den großen Wurf zu liefern, sondern etwas zu versuchen, zu verwerfen, neu anzufangen. Das erfordert Ehrlichkeit und Durchhaltevermögen. Es verlangt, dass man sichtbar macht, was man noch nicht weiß. In meinen Augen ist das kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke. Wer unfertige Dinge zulässt, zeigt Vertrauen, in die Entwicklung, in die Mitwirkenden, in die Möglichkeit, unterwegs zu lernen.
Das Provisorische ist Teil der Gegenwart und manchmal der einzige Weg in die Zukunft.
Wenn ich auf die großen Herausforderungen unserer Zeit schaue, sehe ich kaum Alternativen zum Mut des Unfertigen. Die Klimakrise lässt sich nicht mit einer einzigen Entscheidung lösen, sondern mit vielen provisorischen Schritten, die sich laufend anpassen müssen. Auch im Umgang mit Technologie oder gesellschaftlichen Veränderungen gilt: Es gibt keine Masterpläne, nur tastende Bewegungen. Vielleicht müssen wir lernen, Zwischenlösungen nicht als Rückschritt zu begreifen, sondern als Fortschritt unter realen Bedingungen. Das Provisorische ist Teil der Gegenwart und manchmal der einzige Weg in die Zukunft.
Ich denke oft daran, wie viel Entlastung darin liegen könnte, wenn wir uns erlauben würden, nicht sofort das perfekte Ergebnis liefern zu müssen. Dass wir uns Räume schaffen, in denen ein Versuch ausreicht, auch wenn er unvollständig bleibt. Es wäre heilsam, wenn wir das Unfertige nicht länger als Fehler begreifen, sondern als notwendige Etappe. Nicht als Ausrede, sondern als Ausdruck von Verantwortung. Denn es ist verantwortungsvoller, eine unvollständige Lösung anzubieten, die wirkt, als auf eine endgültige Antwort zu warten, die nie kommt.
Auch privat kenne ich das Gefühl, alles sofort fertig haben zu wollen. Aber das Leben spielt selten so mit. Oft entstehen die wertvollsten Momente gerade im Ungeplanten, im Innehalten oder im Nachjustieren. Mut zum Unfertigen bedeutet für mich auch, milder mit mir selbst zu werden. Nicht jede Antwort sofort haben zu müssen, sondern offen zu bleiben für das, was unterwegs passiert. Ich weiß es nicht, zumindest noch nicht.
Mut bedeutet nicht, frei von Angst und Zweifel zu sein, sondern trotz Zweifel zu handeln. Mut heißt nicht, einen Endpunkt zu definieren, sondern sich auf einen Weg einzulassen. Mut bedeutet, den Prozess nicht zu scheuen, auch wenn er noch unordentlich ist.
Ich glaube, wir müssen uns daran immer wieder bewusst erinnern. Denn wer Mut nur im Endgültigen sucht, wird in Zukunft vermutlich häufiger enttäuscht werden. Wer Mut auch im Prozess erkennt, der kann handeln, ohne die Illusion der Kontrolle aufrechtzuerhalten. Mehr leise Schritte. Mehr Vertrauen. Mehr Unfertiges.
Der Autor
Márton Liszka ist Gründer von Magali SOLUTIONS und begleitet Menschen und Organisationen dabei, Veränderung bewusst zu gestalten. Mit unterschiedlichen Formaten schafft er Räume für Klarheit, Selbstführung, Zusammenarbeit und Innovationskraft. Zuvor war er als COO beim Zukunftsinstitut tätig und bringt juristische Ausbildungen aus Österreich, Großbritannien und den Niederlanden mit. Sein zentrales Anliegen: Unsicherheit als Chance begreifen und nachhaltige Lösungen entwickeln, die Wirkung entfalten.