„Wir leben das“

Klassiker im Handel

„Heute spricht die Marke eben nicht mehr nur Punks an, sondern auch andere Subkulturen. Ich habe Doc Martens schon an Balletttänzer für eine Inszenierung verkauft – sie verbinden verschiedene Genres und Szenen, werden aber auch ganz street-smart von Leuten getragen, die mit Subkultur nicht viel zu tun haben.“ Christian-Werner ©Pick Up

Autorin: Eva Westhoff
Kult ist eine vielfach voreilig bemühte Vokabel, doch auf PICK UP trifft sie zu. Seit 1978 ist der kleine Laden in der Düsseldorfer Altstadt beheimatet, etwas versteckt in der Kapuzinergasse. Auf rund 70 Quadratmetern, verteilt auf zwei Räume, findet sich hier eine Auswahl an Schuhen, Bekleidung, Accessoires und weiterem Zubehör, die in der britischen Workwear verwurzelt ist und Subkultur feiert, besonders solche mit musikalischem Background. Schuhe von Dr. Martens sind seit jeher identitätsstiftend für PICK UP.  

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Angefangen hat alles 1970. PICK-UP-Gründer Henry Hoppe startet zunächst das BBC auf der Ratinger Straße, nur ein paar Schritte entfernt vom heutigen Standort. An der benachbarten Kunstakademie lehrt damals Joseph Beuys, wenige Jahre später wird im Ratinger Hof die deutsche Punkbewegung Fahrt aufnehmen. Henry Hoppe liefert die Klamotten zum Lebensgefühl und mit Dr. Martens auch das passende Schuhwerk – als einer der ersten Dr.-Martens-Händler Deutschlands.

Vor rund zehn Jahren ist Christian Werner in Hoppes Fußstapfen getreten. Wie beurteilt der heutige Inhaber von PICK UP die Wegstrecke, die die Kultmarke in den letzten Jahrzehnten zurückgelegt hat?

FASHION TODAY: Die Geschichte von PICK UP ist untrennbar mit Dr. Martens verbunden. Bereits 1970 importierte PICK-UP-Gründer Henry Hoppe Docs aus England, als einer der ersten Händler in Deutschland. Wofür stand Dr. Martens damals und wofür steht die Marke heute?
Christian Werner: „Lassen wir die Vorgeschichte in Deutschland mit Dr. Märtens mal außen vor (‚Doktor Märtens Luftpolsterschuhe‘ lieferten die Blaupause für die Dr.-Martens-AirWair-Sohle/Anm. d. Verf.) – wirklich großgemacht hat die Marke ja GRIGGS in England: Als Arbeitsschuhe, die sie ursprünglich waren, wurden Doc Martens gleichermaßen von Postboten, Milchmännern und Polizisten getragen. 1967 trug Pete Townshend von The Who sie auf der Bühne, und so wurden Docs auch innerhalb der Jugendkultur zu einem Symbol für die Arbeiterbewegung. Als Working-Class-Kids haben sich dann die Skins und Punks mit der Marke identifiziert. Doc Martens waren einfach günstig, stabil und sahen cool aus. Und als Zeichen einer Subkultur funktionieren sie bis heute, als Möglichkeit, sich abzuheben. Gleichzeitig gibt es kaum mehr wen, der nicht Doc Martens trägt.“

Die Kundschaft hat sich also verändert?
„Jein, sie hat sich erweitert. Der Kern ist geblieben.“

Statement oder Lifestyle-Schuh? Kann der Kult weiterleben, obwohl mit PERMIRA heute ein Finanzinvestor Hauptaktionär von Dr. Martens ist?
„Eine Firma, die an der Börse ist, muss natürlich liefern. Aber die machen ja gar nichts Verrücktes – sie experimentieren mit verschiedenen Sohlen und haben ihr Programm einfach stark erweitert, wobei es Doc-Martens-Sandalen beispielsweise bereits seit den 1990ern gibt. Heute spricht die Marke eben nicht mehr nur Punks an, sondern auch andere Subkulturen. Ich habe Doc Martens schon an Balletttänzer für eine Inszenierung verkauft – sie verbinden verschiedene Genres und Szenen, werden aber auch ganz street-smart von Leuten getragen, die mit Subkultur nicht viel zu tun haben. Viele fühlen sich von Doc Martens einfach modisch angesprochen und wissen, dass sie gut halten.“

Nach welchen Kriterien entscheidest du, welche Modelle bei PICK UP ins Sortiment genommen werden?
„Ich bleibe relativ klassisch bei meiner Auswahl, denn selbst dann ist sie schon sehr groß. PICK UP führt allein mindestens acht verschiedene schwarze 8-Loch-Doc-Martens, darunter den 1460 in smooth mit der gelben Naht, in mono mit schwarzer Naht, in weichem Leder für Damen, in weichem Leder in Unisex-Leisten. Hinzu kommen weitere Farben, außerdem die Chelseas, die Halbschuhe, die Loafer. Wenn klassische Modelle Teil einer interessanten Collab sind, wie zum Beispiel im Rahmen von Dr. Martens x The Clash, dann nehme ich sie auch gerne mit ins Programm – Experimentelleres hingegen oft erst mal nicht, auch wenn es vielleicht zukunftsweisend ist. Solche Modelle lasse ich zunächst Dr. Martens in den eigenen Shops ausprobieren.“

„Doc Martens waren einfach günstig, stabil und sahen cool aus. Und als Zeichen einer Subkultur funktionieren sie bis heute, als Möglichkeit, sich abzuheben. Gleichzeitig gibt es kaum mehr wen, der nicht Doc Martens trägt.“

Du sprichst die eigenen Läden an: Im Rahmen seiner Wachstumsstrategie hat Dr. Martens sich vor einigen Jahren strategisch neu ausgerichtet und die Direct-to-Consumer-Kanäle gestärkt. 2018 eröffnete der deutschlandweit zweite Store in Düsseldorf auf der Flinger Straße, in unmittelbarer Laufweite zu PICK UP. 2023 ging der 120-Quadratmeter-Store auf der Düsseldorfer Schadowstraße an den Start, der Standort Flinger Straße wurde geschlossen. Hat sich dein Geschäft durch die Dr.-Martens-Brandstores verändert?
„Nein, es hat sich nichts groß verändert, auch nach der Eröffnung des ersten Stores nicht, der ja tatsächlich direkt hier um die Ecke war. Es hat sich einfach herausgestellt, dass die Nachfrage groß genug ist, und je nachdem, welches Modell eine Kundin oder ein Kunde sucht, schicken wir uns die Leute auch schon mal hin und her.“

Wo macht PICK UP den größeren Umsatz, stationär oder online?
„Definitiv stationär. Wahrscheinlich auch, weil wir auf einen Kundenstamm zugreifen, der seit 1970 gewachsen ist – die Leute kommen mittlerweile mit ihren Enkeln. Außerdem haben Doc Martens so viele verschiedene Leisten, dass es komplett Sinn macht, ins Geschäft zu gehen und zu probieren. Ich habe nicht selten Kunden, die mit einer ganz bestimmten Idee in den Laden kommen und dann feststellen: Der Schuh, den ich mir vorgestellt habe, passt mir gar nicht. Beispiel 8-Loch in Schwarz: Die unterschiedlichen Ausführungen lassen sich im Online-Geschäft nur schwer darstellen.“

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Was macht klassische Docs so ikonisch?
„Das lässt sich nur subjektiv beantworten. Ich würde sagen: Sie sehen gut aus und sie sind langlebig, machen alles mit. Man kann sie auf einem Konzert anziehen, aber auch auf der Arbeit. Und die ganze Geschichte von Doc Martens ist natürlich sehr inspirierend. Wer als Jugendlicher will sich nicht identifizieren mit den vielen Musikern und Künstlern, die man ständig in Doc Martens sieht?“

 

Wie wichtig ist das Thema Material für deine Kunden?
„Heute trägt die 12-Jährige die Marke ebenso wie der Mitte-70-Jährige. Es gibt also auch viele ‚Späteinsteiger‘, die etwas anderes suchen als die klassischen Doc Martens in einem Smooth-Leder. Sie haben keine Lust, durch die ‚Einlaufphase‘ zu gehen, vielleicht auch, weil sie mit Sneakern aufgewachsen sind. Denn dass Lederschuhe eingelaufen werden müssen, ist ja kein reines Doc-Martens-Ding. Jedenfalls fällt auf, dass wir zunehmend weiche Lederarten auf klassischen Modellen verkaufen.“

Hat sich die Qualität der Docs verändert?
„Die Qualität ist annähernd so, wie sie immer war. Ich würde sogar sagen, dass die Neuheiten, bei denen beispielsweise Fettleder zum Einsatz kommen, immer unempfindlicher und somit pflegeleichter werden. Ich habe in den 1990ern begonnen, meine Docs zu tragen, und ganz ehrlich: Auch damals gab es Leute, die ein Loch in ihren Schuhen hatten, weil sie sie einfach nicht gepflegt haben. ‚Made in England‘ oder Asia-Docs, die Frage stellt sich dann ja auch noch. Für Docs ‚made in England‘ wird sicherlich ein hochwertigeres Leder verwendet, aber man muss seine Schuhe eben auch pflegen und ihnen die nötige Liebe zukommen lassen. Bei PICK UP verkaufen wir beide Varianten, die aus Asien und die aus England.“ 

Docs forever?
„Mein Vorgänger sagt immer, es gab Wellen. In den 1970ern ging es los, dann folgte die Erfolgsgeschichte in den 1990ern mit Grunge und so. Und jetzt haben wir seit einigen Jahren wieder einen Riesenhype. Diese Wellen, die wird es vermutlich weiterhin geben, der Trend wird bestimmt auch mal wieder abflauen, aber gerade merke ich davon nichts. Für uns ist das ohnehin eine relativ gleichbleibende Geschichte: Wenn die Schuhe gut laufen, gibt es mehr Mitbewerber, aber der Kuchen ist auch größer. Und bei rückläufiger Nachfrage stehen die Doc Martens dann eben nicht mehr bei den großen Händlern, sondern wieder nur noch bei uns. Aber wir leben das auch: Für uns ist Doc Martens nicht irgendeine Modeerscheinung.“

Auf luftgepolsterten Sohlen durch die Zeiten – History Dr. Martens

Vom Arbeitsschuh und Erkennungszeichen britischer Working-Class-Kids zum begehrten Lifestyleprodukt über Länder-, Alters- und Szenegrenzen hinweg – Dr. Martens steht für ikonisches Schuhwerk mit langer Geschichte. Sie reicht zurück bis ins Deutschland des Jahres 1945: Nach einem Skiunfall mit Fußbruch entwickelt der Arzt Dr. Klaus Märtens aus Gummiresten eine neuartige, luftgepolsterte Sohle. Gemeinsam mit dem Ingenieur Dr. Herbert Funk startet er zwei Jahre später mit der offiziellen Produktion und meldet ein Patent an, 1952 eröffnet schließlich eine Fabrik in München. 1959 erwirbt der Brite Bill Griggs die Rechte zur Herstellung der Schuhe im Vereinigten Königreich. Das Design erhält ein umfassendes Makeover; die typische gelbe Naht, die gerillte Sohlenkante und ein neues Untersohlendesign werden zum Markenzeichen. Am 1. April 1960 geht der erste Schnürstiefel in England in Produktion – der klassische 8-Loch-Stiefel „1460“, der bis heute zusammen mit dem Halbschuh „1461“, der im Jahr darauf auf den Markt kommt, den Kern der Originals-Kollektion bildet. „AirWair – With Bouncing Soles“, dieser Slogan ist noch immer Teil des Markenlogos.

Vom Arbeitsschuh zum Symbol der Arbeiterklasse: Spätestens, als Pete Townshend von The Who den „1460“ auf der Bühne trägt, sind Doc Martens Ausdruck von Rebellion und fester Bestandteil britischer Jugendkultur. In der Folge erobern „Docs“ dann auch Subkulturen jenseits der Insel. 2003 wird eine Revitalisierung der Marke angegangen, in deren Verlauf High-Fashion-Designer aus aller Welt den klassischen „1460“-Stiefel neu interpretieren und individuell gestalten. Im selben Jahr wird die Produktion nach Asien verlagert – heute gibt es außerdem eine „Made in England“-Kollektion.

2014 übernimmt der Londoner Finanzinvestor PERMIRA für umgerechnet 360 Millionen Euro 75 Prozent des Unternehmens von der Eigentümerfamilie Griggs. Im Zuge der Wachstumsstrategie wird ab 2018 in Deutschland ein eigener Einzelhandel aufgebaut. 2021 bringt PERMIRA rund 35 Prozent seiner Anteile an die Londoner Börse. Der Wert von Dr. Martens liegt zu diesem Zeitpunkt bei umgerechnet 4,2 Milliarden Euro. Im April 2024 bricht die Aktie um 30 Prozent ein. Hintergrund ist unter anderem eine schwache Nachfrage in den USA. Das Geschäftsjahr 2024/2025 wird mit deutlichen Rückgängen bei Umsatz und Gewinn abgeschlossen. Der Konzernumsatz sinkt um rund 10 Prozent auf 787,6 Millionen Pfund (circa 936 Millionen Euro), der bereinigte Vorsteuergewinn bricht von 97,2 auf 34,1 Millionen Pfund (40,5 Millionen Euro) ein. Zum Januar 2025 gibt es einen Führungswechsel bei Dr. Martens: Ije Nwokorie, bisheriger Markenchef, wird neuer CEO und löst damit Kenny Wilson ab. Im Juni 2025 wird ein strategisches Update vorgestellt, in dessen Fokus unter anderem eine Erweiterung des Produktportfolios mit Blick etwa auf Sandalen und Accessoires wie Taschen steht. Für das laufende Geschäftsjahr 2025/2026 erwartet Dr. Martens eine Rückkehr zu signifikantem Gewinnwachstum.