Autorin: Katja VadersIm Januar stehen wieder die Fashion Weeks in den großen Modemetropolen an, auf denen die Trends für die kommende Saison präsentiert werden. Der perfekte Zeitpunkt, schon jetzt einen Blick auf die neuesten Styles der Menswear zu werfen. Dazu baten wir Carl Tillessen, Geschäftsführer vom Deutschen Mode-Institut DMI, Trendanalyst, Berater und Autor, für uns die aktuellen Entwicklungen in der Männermode zusammenzufassen – und einen analytischen Blick auf moderne Männerbilder zu werfen.

FASHION TODAY: Herr Tillessen, wir haben das letzte Mal vor anderthalb Jahren über die aktuellen Trends gesprochen. Sie hatten seinerzeit die neue Männlichkeit eingeläutet, die sich in der Mode vor allem über feminin konnotierte Farben und Materialien niedergeschlagen hat. Hat sich der mit diesem Look verknüpfte Männertypus durchgesetzt – oder ist er bereits von einem anderen Männlichkeitsbild abgelöst worden?
Carl Tillessen: „Den Übergang zu dem femininen Männertypus würde ich als gesellschaftliche Baustelle bezeichnen, die ein bisschen ist wie Stuttgart 21 oder der Berliner Flughafen: Sie dauert länger, es geht nicht kontinuierlich voran und das Ziel wird nicht stetig weiterverfolgt; was aber auch so vorhersehbar war. Es hat erstaunlich mühelos funktioniert, dass Männer die klassisch feminin konnotierten Farben angenommen haben. Ganz klischeehaft waren das Rosa, aber auch andere Pastelltöne wie Mauve, Flieder und das übrige Violett-Spektrum, sehr feminine Farben, die ganz selbstverständlich als Zeichen der Modernität getragen wurden. Seinerzeit hatte man das Bedürfnis, sich vom Negativbild des alten, weißen Mannes abzugrenzen und sich progressiv zu zeigen. Das wurde auch über das Tragen bestimmter Muster wie floraler Prints getan. In der dritten Phase sind wir nun bei Materialien angekommen: Männer entdecken fließende, glänzende Stoffe für sich, was wir schon bei Kurzarmhemden aus Waschseiden oder viskosigen Qualitäten gesehen haben; Mutige tragen auch Hosen, Blousons oder sogar einen ganzen Anzug aus solchen Materialien. Die Hemden waren also nur das Einfallstor für eine Entwicklung, die sich inzwischen etabliert hat und die für die Männergarderobe sehr viele spannende, neue Möglichkeiten bietet.“
Ich gebe zu, unlängst in eine Reality-Trash-Sendung reingezappt zu haben. Dort habe ich Männer gesehen, die Strick in einer Häkeloptik getragen haben, nicht nur Oberteile, sondern auch Hosen, was mich sehr erstaunt hat. Sind solche Materialien also schon im Mainstream angekommen?
„Diese gestrickten Optiken sind über einen Trickle-down-Effekt im Mainstream angekommen. Das hat mit einer anderen spannenden Entwicklung zu tun, über die ich mit Ihnen sprechen möchte. Wir erleben aktuell im Mainstream einen grundsätzlichen Shift, was die Vorbilder anbelangt, nachdem wir ein Jahrzehnt hinter uns gebracht haben, das komplett von einer Hip-Hop-Attitüde geprägt war, auch musikalisch. Die Vorbilder kamen dementsprechend aus dieser Szene, alle Marken wollten deren Repräsentanten wie A$AP Rocky einkleiden und mit Streetwear-Marken wie Supreme kooperieren. Das Ganze kam als kulturelles Paket inklusive einer Ghetto-Attitüde, des Kokettierens mit dem Ungebildeten, dem Primitiven und der Armut – eine Entwicklung, die allerdings innerhalb von sehr kurzer Zeit gekippt ist. Momentan sind wir in einer Phase, in der wir die Bequemlichkeit, die die Hip-Hop-Attitüde mit sich gebracht hat, dennoch nicht aufgeben wollen: Wir haben uns an Schuhe mit der Auftrittspufferung von Sneakern und bequeme Kleidung wie aus der Athleisure gewöhnt und möchten diese Bequemlichkeit gerne beibehalten. Gleichzeitig wollen wir weg von der Ghetto-Attitüde. Eine Entwicklung, die sehr spannend ist, da sie neue Formen angibt. Ein zentrales Motiv ist, dass wir wegkommen von Jersey, also dem Material, das diese amerikanische Hip-Hop-Kultur prägt: Sweatshirts, Jogginghosen und T-Shirts.“
Wodurch werden diese Materialien ersetzt?
„Der Wechsel geschieht über den von Ihnen bereits erwähnten Strick, der viel wertiger aussieht. Das Fully-Fashion-Gestrickte wird allerdings so überbetont, dass man die Strickoptiken mit einer weithin erkennbaren Struktur trägt, vor allem Poloshirts, die eines der erfolgreichsten Produkte in der Menswear des letzten Sommers waren und auf 10 Kilometer Entfernung als Strickpolo wahrnehmbar sein sollten. Passend zu dieser Übertreibung sind wir nun auch weg von diesen Videokassetten-Wegbring-Shorts aus Jersey hin zu den zu Strickpolos dazugehörigen Shorts, die ganz klar als gestrickt oder gehäkelt erkennbar sein müssen und fast schon eine Topflappen-Optik haben. Diese Überbetonung soll eine möglichst große Distanz zwischen dem Ghetto-Look und dieser neuen Ästhetik schaffen …“
… um dann doch wieder im Mainstream zu landen und von denjenigen getragen zu werden, die vorher den Ghetto-Look propagiert haben, wie ich im Trash TV gesehen habe …
„Das ist nun mal der Lauf der Dinge. Viel interessanter ist, dass wir gleichzeitig von den Sportarten wegkommen, die bei diesem Ghetto-Look und in der Athleisure eine Rolle spielten, wie zum Beispiel vom Basketball. Jetzt geht es um Tennis, Golf, Polo, Skifahren, also um elitäre Sportarten, die sehr viel Geld kosten, exklusiv sind und traditionell den reichen, weißen Upperclass-Menschen vorbehalten waren.“
„Der Anzug ist seit Corona ziemlich stabil. Wenn Sie mich fragen, ob wir noch in 100 Jahren klassische Anzüge tragen, gehe ich davon aus, dass dies wahrscheinlich selten der Fall sein wird. Aber es wird ein sehr langsamer Prozess sein, bis unsere Kleidung weniger förmlich geworden ist.“
Wie sehen die dazu passenden Looks aus?
„Das ist beispielsweise eine Hose mit Bügel- und Bundfalte aus einem fließenden Stoff, dazu ganz saubere Sneaker. Man trägt keinen Anzug, ist aber trotzdem sehr bemüht zu signalisieren, dass man hochwertig und gepflegt gekleidet ist.“
Sind Anzüge, ausgenommen der Anlassanzug, also eher auf dem Rückzug? Oder trägt man ihn weiterhin, wenn man beispielsweise in ein gutes Restaurant geht?
„Der Anzug ist seit Corona ziemlich stabil. Wenn Sie mich fragen, ob wir noch in 100 Jahren klassische Anzüge tragen, gehe ich davon aus, dass dies wahrscheinlich selten der Fall sein wird. Aber es wird ein sehr langsamer Prozess sein, bis unsere Kleidung weniger förmlich geworden ist. Insgesamt kann man also immer noch eine Freude am Anzug sehen. In den ersten 20 Jahren dieses Jahrtausends wurden Anzüge propagiert, an denen alles schmal ist – Hose, Schultern, Revers … Jetzt schlägt das Pendel in die entgegengesetzte Richtung aus: Wir sehen breitere Hosen, Schultern und vor allem breite Revers und Krawatten, größere Hemdkragen … Das hat alles ein bisschen mehr Fläche und damit verbunden gibt es eben zweireihige Sakkos mit breiten, aufsteigenden Revers. Diese neuen Anzüge sind gerade erst in der Masse angekommen und bereiten den Männern aktuell sehr viel Freude.“
Also Schnitte wie aus den 1930er- und 1940er-Jahren?
„Oder in den 1990er-Jahren bei ARMANI.“
Sehen wir diese Anzüge auch in auffälligen Farben, Materialien und mit Mustern? Oder schlägt sich die Krise, in der wir uns ja in einer Art Dauerzustand befinden, bei Anzügen in gedeckteren Farben nieder?
„Das würde ich nicht sagen. Die Krise schlägt sich eher so nieder, dass man sich bemüht, mit seiner Kleidung klarzustellen, dass man sein Leben im Griff hat. Man möchte gepflegt auftreten und in seinen Outfits nicht länger mit Armut und Ghetto kokettieren.“
Welche Farben werden getragen – auch jenseits der Anzug-Looks?
„Im farblichen Bereich gibt es einen sehr spannenden und tollen Impuls für den Sommer, insbesondere in der Menswear, über den ich unbedingt mit Ihnen sprechen möchte: Summer Darks.“
Was ist damit gemeint?
„In unserem Kulturkreis hat man uns beigebracht, im Winter dunkle und im Sommer helle Farben zu tragen. Genau das wird jetzt umgekehrt und führt zu ganz tollen Looks, die von den Männern erstaunlich gut verstanden und angenommen werden: Dass man im Sommer komplett in dunkle Farben gekleidet ist. Das setzt übrigens auch ganz starke Kaufimpulse, weil es Lust macht, sich nicht nur ein Teil, sondern komplette Outfits zu kaufen und sich von Kopf bis Fuß neu einzukleiden. Summer Darks wurden schon in 2025 gut angenommen, werden aber wahrscheinlich im kommenden Sommer ihren Höhepunkt erreichen. In dieser Dunkelheit werden komplett neue Farbkombinationen möglich, die man normalerweise nicht miteinander tragen würde. Denn wenn die Farben nur dunkel genug sind, passt alles zusammen: So kann man in einem Outfit ganz dunkles Braun mit sehr dunklem Blau und einem extrem dunklen Rot und Grün miteinander kombinieren, ohne dass es bunt aussieht.“
Welche Schuhe trägt man dazu? Wir hatten in unserem letzten Gespräch über eine gewisse Sneakermüdigkeit gesprochen. Setzt diese sich fort?
„Für Männer gibt es in der modischen Spitze aktuell zwei Schuhmodelle, die besonders wichtig sind: Loafer in jeder Form und in diversen Materialien, insbesondere in Velours und Wildleder, und für die etwas mutigeren Männer Cowboy Boots und Bikerstiefel-Optiken. Daneben sehen wir Clean-Tennis- oder sehr adrette Sneaker.“
Der Sneaker ist also doch noch nicht komplett weg?
„Nein, im wenig mutigen Mainstream kauft man sich einen ganz schlichten, komplett schwarzen, braunen oder grauen Sneaker, der das fortführt, was wir zuvor hatten, aber eben mit einer neuen Farbigkeit. Wir kommen also weg vom weißen Sneaker im Athleisure-Look, den wir ja hinter uns gelassen haben.“
Also endlich keine Uniform mehr, die aus der Kombination einer schmalen Jeans mit einem weißen Sneaker besteht?
„Viele Männer haben ab einem Alter von Anfang 30 einen Taste Freeze: Sie bewegen sich modisch nicht mehr. Sie halten dann unberührt von allen weiteren modischen Entwicklungen an einem Look fest, in dem sie sich am liebsten begraben lassen wollen. Der kleinste Schritt ist es für diese Männer, sich den obligatorischen Sneaker jetzt in komplett Schwarz, Braun oder Grau zu kaufen, denn auch sie haben bemerkt, dass das schlichte weiße Modell inzwischen komplett ausgelutscht ist.“
Muss die Alternative zum Sneaker wirklich so viel Mut erfordern, wie es der Cowboy-, Bikerstiefel oder Loafer tun?
„Nein, es gibt durchaus auch zurückgenommenere Formen. Eine Alternative sind Schuhe, die uns die Auftrittspufferung von Sneakern bieten, aber nicht so aussehen, als kämen sie vom Sport, zum Beispiel Schuhe mit dicken Crêpe-Sohlen wie die klassischen Wallabees von Clarks. oder Desert Boots oder Schuhe in einer Mokassin-Optik. Alle diese Modelle bieten die Bequemlichkeit eines Sneakers, aber eben mit einem ganz anderen Look.“
Ich würde gerne noch einmal auf das aktuelle Männerbild zurückkommen, das wir bereits am Anfang unseres Gesprächs angesprochen haben. Neben diesem femininen Typus fällt mir sein exakter Gegenpol auf: Man sieht immer mehr Männer, die eine sehr rudimentäre, archaisch-patriarchalische Attitüde zelebrieren, dicke, schnelle Autos fahren, in denen sie eine sogenannte Petromaskulinität zur Schau stellen. Man sieht sie vor allem auf Social-Media-Kanälen, auf denen die Manosphere immer präsenter wird, aber auch in neoliberalen wie rechtspopulistischen Kreisen. Was tragen diese Männer?
„Auch bei diesen Männern sehe ich einen extremen Taste Freeze. Sie tragen etwas zu enge Hemden und Hosen, sind also bei diesem Look hängen geblieben, bei dem alles sehr körperbetont sein muss. Dabei gehen sie definitiv auf Nummer sicher und sind extrem konservativ. Entweder sieht man diesen Typus in sehr klassischer Sportswear, Kleidung mit großen Logos – echt oder fake – oder er orientiert sich an Steve McQueen und Sean Connery. Letztere Männer landen dabei schnell im Heritage, das extrem begrenzt ist mit einem sehr eingefahrenen Kanon von Klassikern, die in diesen Kreisen akzeptabel sind: BARACUTA-Harrington-Blousons, SELVAGE-Denims, Edelstahl-Uhren von Rolex oder OMEGA und einer Sonnenbrille von Ray-Ban oder Persol – Marken und Produkte, die es seit 50, 60, 70 Jahren gibt und die immer weiter perpetuiert werden.“
In diesem Zusammenhang ist es umso spannender, dass Sie gerade einen kulturellen Wechsel in der Mode beobachten.
„Absolut! Und diesen kulturellen Wandel, weg von der Hip-Hop- und Ghetto-Kultur, sehen wir auch über die Mode hinaus. Ich beobachte eine Art Rückkehr von der schwarzen zur weißen Kultur – zu den sogenannten White Sports wie Tennis und Golfen, zu Old Money. Bezugspunkt für diese Beobachtung ist die Nachricht, dass zum ersten Mal seit dem Jahr 1990 keine Rap-Songs in den Top 40 der Billboard Hot 100 sind.“
Was vermutlich auch mit der aktuellen politischen Lage in den USA zu tun hat, der MAGA-Bewegung und so weiter.
„Ja, damit schießen sich die USA aber ins eigene Bein und verlieren die kulturelle Vorherrschaft. Nicht mehr der American Way of Life, sondern die europäische Lebensart ist das Vorbild. Ein starkes Signal in der Mode für diese Entwicklung ist die Rückkehr der britischen Barbour.-Jacken, die man traditionell auf der Jagd trägt. Und während keine Rap-Titel mehr in den Billboard Charts zu finden sind, gibt es einen unglaublichen Hype um die Musikerin Rosalia, eine junge Spanierin, die auf ihrem Album in 13 Sprachen singt, mit Björk kooperiert und deutsche Opern liebt. Sie ist also intellektuell, kultiviert, weiblich, europäisch – einen stärkeren Gegenpol zu der Hip-Hop-Kultur kann es gar nicht geben.“
Dennoch müssen wir ganz klar festhalten, dass insbesondere in den sozialen Medien eine Rückkehr zum Patriarchat stattfindet.
„Ja, die Manosphere im Internet spielt definitiv eine große Rolle, aber steht gleichzeitig für eine Form der Stagnation, für etwas Reaktionäres und Konservatives, von dem keine modischen Impulse ausgehen. Parallel dazu beobachte ich ein kultivierteres und sensibleres Männerbild, das ein sehr spannendes Phänomen in der Männermode hervorbringt – eine Abwendung vom Digitalen: Man macht sich nicht mehr für Instagram oder TikTok zurecht, sondern möchte Mode als etwas Multisensorisches erleben, das im Real Life stattfindet. Ein Indiz dafür ist der regelrechte Parfum-Hype, über den sogenannte Duftfluencer einen massiven Zulauf bekommen. Einzelhändlerinnen und Einzelhändler sprechen sogar davon, dass Düfte die neuen Sneaker sind.“
Was steckt dahinter?
„Viele junge Männer sammeln Nerdwissen und geben unglaublich viel Geld nicht nur für Mainstream-, sondern vor allem für Nischen-Düfte aus, die gerne auch mehrere Hundert Euro kosten. Sie haben nicht nur einen Signature-Duft, sondern besitzen ganz viele Parfums, die sie je nach Anlass tragen und mit denen sie sich, ähnlich wie ein Weinkenner, profilieren können. Da kommt einiges zusammen: nicht nur die Rückkehr ins Offline-Leben, sondern vor allem veränderte Rollenbilder eines Mannes, der sich nicht nur mit Düften, sondern auch mit Kosmetik auseinandersetzt, der eine mehrstufige morgendliche und abendliche Kosmetik-Routine pflegt und darüber spricht. Für mich nicht nur ein neues Männlichkeitsbild, sondern zudem ein sehr spannendes kulturelles Phänomen.“
Absolut – wir dürfen gespannt sein, wohin sich der moderne Mann in den kommenden Saisons noch weiterentwickelt … In unseren letzten Gesprächen haben wir zum Abschluss immer ein Zitat gefunden, das den aktuellen Zeitgeist zumindest ein bisschen einfangen konnte. Wen würden Sie nach diesem Gespräch gerne zusammenfassend zitieren?
„Ich möchte ein Zitat aufgreifen, das die Rückkehr in die physische Welt betont, über die ich gerade gesprochen habe. Demna sagte über seine Kollektion für GUCCI: ,The truth is in imperfection – in making mistakes, not always looking good. That’s the substance of being human.‘“
Ein schönes Schlusswort – vielen Dank für das inspirierende Gespräch!
Der Interviewpartner
Carl Tillessen ist studierter Betriebswirt und Kunsthistoriker. 1997 gründete er das Berliner Modelabel FIRMA. Als Kreativdirektor und Geschäftsführer entwickelte er nicht nur 17 Jahre lang die Kollektion, die weltweit vertrieben wurde und zahlreiche Preise gewann, sondern auch sechs eigene Läden, einen Onlineshop und eine Kosmetiklinie. Heute ist Tillessen geschäftsführender Gesellschafter und Chefanalyst beim DMI und berät renommierte Firmen aus der Konsumgüterindustrie.















