Genderless Fashion – Zukunftsvision oder Marketingversprechen?

Unisexmode

„Bei der Auflösung der männlichen Dresscodes spielen Farben eindeutig die Hauptrolle.“ Carl Tillessen, Geschäftsführer DMI. ©Martin Mai

Autorin: Eva Westhoff
Megatrend Gender Shift. Wie geht es weiter mit der Zuschreibung von Männlichkeit und Weiblichkeit? Auch die Mode stellt sich diese Frage. Fashion Today wollte es genauer wissen und hat einen Zeitgeist-Experten um seine Einschätzung gebeten. Carl Tillessen, Geschäftsführer DMI (Deutsches Mode-Institut), über die Neuordnung der Geschlechterrollen, die Herausforderung Passform – und einen Selbstversuch mit Unisex-Basics.

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FT: „Ich versuche nicht, Männer aussehen zu lassen wie Frauen und umgekehrt. Ich versuche, etwas Pures zu entwerfen, das man für sich verändern kann. Das ist für mich Unisex.“ So hat sich Rad Hourani, der 2013 als erster Designer eine Unisex-Kollektion während der Pariser Haute-Couture-Schauen präsentiert hat, einmal gegenüber dem „Tagesspiegel“ geäußert. Ist es nicht so, dass Unisex-Mode angesichts der sich unterscheidenden weiblichen und männlichen Körperformen überhaupt nur über geradlinige, schlichte, nicht allzu figurbetonte Styles funktioniert? Ist sie im Kern „basic“?
Carl Tillessen: „Ja, die ersten Versuche in diese Richtung wurden tatsächlich mit ganz einfachen, geradlinigen Styles in nachgiebigen Materialien wie Jersey gemacht. In den letzten zwei Jahren hat man naheliegenderweise viel mit Unisex-Jogginghosen und -Sweatshirts herumexperimentiert. Ich habe mir die Mühe gemacht, mich da einmal durchzuprobieren, und muss leider sagen: Meist hat es nicht einmal bei diesen simplen Teilen so richtig geklappt. Eine Passform, die die Unterschiede in den Körperformen von Frauen und Männern verleugnet, führt fast immer zu einer sichtbaren Dissonanz zwischen Kleidungsstück und Körper. Und das menschliche Auge hat dann die boshafte Tendenz, nicht an dem Kleidungsstück zu zweifeln, sondern an dem Körper darin. Das heißt: Wenn man eine Jacke mit unterschiedlich langen Ärmeln trüge, würden alle denken, man hätte unterschiedlich lange Arme. Die Passform ist tatsächlich die größte Herausforderung für die Unisex-Mode. Schnitte, die versuchen, es Frauen und Männern recht zu machen, machen es am Ende bedauerlicherweise meist keinem recht.“

Zwischenzeitlich schien Genderless Fashion massentauglich zu werden. Doch Highstreet-Mode-Anbieter wie H&M und ZARA haben ihre Unisex-Kollektionen „Denim United“ und „Ungendered“ wieder eingestellt, einige genderneutrale Produkte bietet H&M jedoch weiterhin an. Der Online-Händler asos führt exklusiv die Brand „Collusion“. Auch einige Konfektionäre wie beispielsweise seidensticker haben Unisex-Kollektionen an den Start gebracht. Ist Genderless Fashion im Mainstream angekommen oder handelt es sich vor allem um einen Marketingschachzug, der darin besteht, Produkte mit dem Label „Unisex“ zu versehen, die ohnehin geschlechtsübergreifend getragen werden, zum Beispiel Shirts, Sportbekleidung oder Sneakers?

©FATEEVA, Foto: Tatyana Vlasova

„Solche Rückschläge und Rückschritte, wie Sie sie beschreiben, liegen in der Natur der Sache. Bereits vor Social Media fühlten sich fast alle Frauen und Männer heillos davon überfordert, ein lieblicher, puppengesichtiger Kurvenstar beziehungsweise ein kerniger, metallgesichtiger Muskelberg sein zu sollen. Doch durch den globalen Schönheitswettbewerb auf Instagram und Co in Verbindung mit zahlreichen Möglichkeiten, Weiblichkeit respektive Männlichkeit durch Bildbearbeitung zu steigern, ist der Druck jetzt vollends unerträglich geworden. Insofern haben wir mehr als genug Grund, die übersteigerten Erwartungen an unser Geschlecht spielerisch zu unterlaufen. Gleichzeitig vermitteln uns dieselben übersteigerten Erwartungen permanent, dass wir ohnehin schon nicht weiblich oder männlich genug sind und es uns insofern gar nicht leisten können, mit unserer Geschlechteridentität zu spielen. Das ist das Paradoxe an diesem Phänomen: Dieselbe Überforderung, die unseren Widerstand provoziert, lässt uns oft im letzten Moment vor diesem Widerstand zurückschrecken.“

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Speziell die männlichen Dresscodes lösen sich gerade ein Stück weit auf und das nicht nur im Bereich der Businessmode. Junge Männer sind immer sensibler für Genderthemen und möchten nicht nur ihre maskuline Seite zeigen. Stars wie Harry Styles machen es vor. Bislang sind die Unisex-Kollektionen jedoch eher maskulin ausgerichtet und auf Frauen zugeschnitten, die sich androgyn kleiden möchten. Röcke und Kleider sucht man hier oft vergebens. Wie kann eine Unisex-Mode aussehen, die einen Wiedererkennungswert hat und auch die Individualität der Männer und nonbinären Menschen unterstreicht? Welche Rolle spielen hier Materialien und Farben?
„Ja, bei der Auflösung der männlichen Dresscodes spielen Farben eindeutig die Hauptrolle. Sie sind der Einstieg in ein facettenreicheres Männerbild. Es ist beeindruckend, wie mutig Männer sich diesbezüglich in den letzten Saisons gezeigt haben und welche kommerzielle Relevanz die neuen Farben innerhalb kürzester Zeit gewonnen haben. Inzwischen tragen die unterschiedlichsten Männer mit absoluter Selbstverständlichkeit Farben, die sie vor wenigen Jahren noch nicht einmal in Erwägung gezogen hätten. Nachdem dieser Schritt gemacht ist, kommen dann ganz schnell florale Muster, Männerhandtaschen und Schmuck hinzu. Das sind wichtige kleine Signale, mit denen Männer zeigen, dass sie sich bewegen und eben keine unverbesserlichen alten, weißen Männer sind. Männerkollektionen, die sich all diesen Elementen komplett verweigern, wirken hingegen stehen geblieben und unzeitgemäß.“

Das Zukunftsinstitut sieht im Gender Shift einen sogenannten Megatrend und stellt unter anderem die These auf, dass sich Identitäten künftig noch stärker jenseits von Geschlecht definieren werden. Gender-Based Marketing wäre dann passé, so die Prognose, jede Form von genderspezifischen Produkten und Ansprachen würde problematisch. Teilen Sie diese Einschätzung? Wie müssten sich die Kommunikation und die Präsentation im Handel verändern, wo heute zumeist noch strikt in Damen- und Herrenabteilung unterschieden wird?
„Wenn Frauen- und Männerkleidung sich im Moment einander annähern, dann tut die Mode mit ihren Mitteln das, was unsere Gesellschaft als Ganzes tut: Sie hinterfragt Geschlechteridentitäten. Und damit werden wir noch lange beschäftigt sein, denn die Generation Z hat sich die Neuordnung der Geschlechterrollen fest auf die Fahnen geschrieben und sie wird nicht lockerlassen, bis sich unsere Gesellschaft als Ganzes bewegt hat. Insofern ist Aussitzen keine Option, weder für das Design noch für das Marketing. In vielen Bereichen wird die Trennung zwischen Frauen- und Männerkollektionen auf der ganzen Strecke von der Konzeption bis zum Point of Sale verschwinden. Bei Sneakern zum Beispiel wird es zunehmend inakzeptabel, bestimmte Modelle nur für Männer anzubieten. In anderen Bereichen, wie zum Beispiel Hosen, werden wir aufgrund der eingangs erwähnten unterschiedlichen Körperformen wohl bis auf Weiteres an ein binäres Geschlechtersystem gekettet bleiben.“

©FATEEVA, Foto: Tatyana Vlasova

Mit Blick auf die Nachhaltigkeit hinterfragen immer mehr Konsumentinnen und Konsumenten ihr Kaufverhalten. Sie möchten weniger Mode kaufen und setzen daher nicht nur auf langlebige Qualitäten, sondern auch auf ein eher schlichtes, zeitloses Design. Kombinierbarkeit ist ein Schlüsselbegriff. Eine ganze Reihe kleinerer Labels denkt Unisex und Nachhaltigkeit bereits heute zusammen. Kann Unisex-Mode einen Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten?
„Unisex-Mode und nachhaltige Mode sind selbstverständlich schon deshalb gedanklich miteinander verknüpft, weil sie sich beide an die woke Zielgruppe in unserer Gesellschaft richten. Darüber hinaus kann man im Hinblick auf Nachhaltigkeit an Unisex-Mode die berechtigte Hoffnung knüpfen, dass die DOB durch die Annäherung an die HAKA sowohl in puncto Design als auch Qualität langlebiger wird. Die ersten Beispiele aus der Praxis deuten darauf hin, dass das tatsächlich so ist.“