
Autor: Markus OessJulian Krüger ist Sales Consultant bei hachmeister + partner und arbeitet täglich mit Daten, Tools und Entscheidern aus dem Modehandel. Im Gespräch mit FASHION TODAY beschreibt er die strukturellen Veränderungen im Orderverhalten, die Rolle von Seasonal NOS, die Zukunft von Businesswear und warum Vertrauen, digitale Schnittstellen und mutige Prozesse entscheidend für die Zukunft sind.
Ob auf der Pitti Uomo oder anderen Messen: Die Stimmung ist oft besser als die tatsächliche Orderlage. Julian Krüger, Sales Consultant bei h + p, kennt die Zahlen dahinter. Als Berater und Analyst arbeitet er eng mit Marken und Händlern zusammen, wenn es um die Nutzung von Tools wie dem CRM-Portal oder KI-gesteuertem Replenishment geht. In diesem Gespräch gibt er konkrete Einschätzungen, wie sich das Orderverhalten wandelt, welche Bedeutung Seasonal NOS hat und wie die Transformation von Businesswear gelingen kann.
FASHION TODAY: Herr Krüger, fast jede Saison läuft nach dem gleichen Muster ab: Auf den Messen, insbesondere heute auf der Pitti, herrscht halbwegs gute Stimmung, der Verkauf der Order hingegen zeigt dann eher eine gewisse Ernüchterung. Was entscheidet bei der Order im Handel: die Fortschreibung beziehungsweise Hochrechnung vergangener Verkaufszahlen oder die Notwendigkeit, mit dem Saisonwechsel auf der Fläche wirklich für Innovation zu sorgen, für frischen Wind im eigentlichen Sinne?
Julian Krüger: „Aktuell beobachten wir eine stärkere Tendenz hin zu verkleinerten Vorordermengen. Der Handel will sich zunehmend die Möglichkeit offenhalten, in der Saison flexibel auf echte Trends, Kundenwünsche und Wetterentwicklungen zu reagieren. Das macht aus wirtschaftlicher Sicht absolut Sinn, aber es verändert auch das Zusammenspiel zwischen Händler und Lieferant. Risiken werden verlagert und Themen wie Block-Orders werden wichtiger.
Denn: Es ist eine große Kunst, in der Saison auch wirklich die benötigte und gefragte Ware zu bekommen. Wenn alle weniger vorordern, entsteht in der Nachorderphase ein enormer Wettbewerb um attraktive Artikel. Hier sind enge Partnerschaften, intelligente Lagersteuerung auf Lieferantenseite und transparente Kommunikation essenziell.
Das bedeutet im Umkehrschluss: Wer als Händler strategisch plant, nicht nur konservativ nach Zahlen ordert, sondern auch mit einem Gespür dafür, wo Nachorder-Potenziale entstehen können, baut sich früh die richtigen Prozesse auf. Kurz: Weniger Order ist kein Selbstläufer, sondern verlangt eine neue Professionalität im Saisongeschäft.“
Zusehends gewinnen das Seasonal NOS und das NOS an Bedeutung. Warum ist das so?
„NOS kombiniert Planungssicherheit mit Flexibilität. Es gibt dem Handel die Sicherheit nachzuordern, wenn ein Produkt gut läuft, und das reduziert Lagerdruck. Seasonal NOS geht einen Schritt weiter: Es erlaubt, saisonal abgestimmte Highlights zu verlängern, wenn die Nachfrage hoch bleibt. Gerade in volatilen Märkten ist das eine Art ,Bestandsversicherung‘ mit Modedynamik. Die Entwicklung ist auch ein Zeichen für das Umdenken: weg von ,alles vorfinanzieren‘, hin zu ,reagieren statt spekulieren‘.
Außerdem eignen sich diese Artikel besonders gut für eine Smart-Replenishment-Lösung, wie unseren Re-Stock Optimizer. Je höher der Anteil von NOS und Seasonal NOS, desto mehr kann mit diesem Tool optimiert werden.
Eine Erhöhung der NOS-Quote muss jedoch zum Geschäftsmodell und dem Kundenkreis passen. Dies gilt es, differenziert nach Flächen und Lieferanten zu betrachten.“
Wo gibt es bei der Menswear und Womenswear Unterschiede im Orderverhalten?
„In der Womenswear wird tendenziell emotionaler und modischer eingekauft, was wiederum schnellere Kollektionswechsel und eine stärkere Sortimentsrotation erfordert. Menswear ist beständiger, funktionaler und markentreuer. Hier dominiert oft das Prinzip der Kontinuität, was langfristige Partnerschaften mit Lieferanten stärkt. Allerdings holt die Menswear mit modischen Kapselkollektionen deutlich auf.“
Welche Trends sehen Sie bei der anstehenden Saison Frühjahr/Sommer 2026 in der Menswear?
„Transformation! Händler sollten Businesswear neu denken: nicht ,fürs Büro‘, sondern ,fürs Leben mit Stil‘. Empfehlenswert sind hybride Produkte wie zum Beispiel Anzüge aus Tech-Stoffen, die bequem wie Sportswear sind, aber businessfähig wirken. Kombis aus Overshirts, eleganten Sneakern, Polo statt Hemd – so wird das klassische Set neu erzählt.“
Konsequent weitergedacht – kann es sinnvoll sein, die Sortimente neu auf der Fläche zu gliedern (also beispielsweise Anzüge und Modern Casual zu mixen)?
„Ja, durchaus. Die Kunden denken nicht mehr in starren Kategorien wie ‚Anzug‘, ‚Freizeit‘ oder ‚Business‘. Deshalb macht es Sinn, Lifestyle-orientierte Flächen zu schaffen. So etwas kann den Kunden inspirieren. Die Mischung machts, solange sie kuratiert und logisch erzählt ist.“
„In der Womenswear wird tendenziell emotionaler und modischer eingekauft, was wiederum schnellere Kollektionswechsel und eine stärkere Sortimentsrotation erfordert. Menswear ist beständiger, funktionaler und markentreuer.“
Der Chef der KATAG, Dr. Daniel Terberger, spricht auch von der Aufnahme neuer, nicht textiler Sortimente und Angebote. Ein guter Rat?
„Wenn sie zur Identität des Händlers passen: ja. Pflegeprodukte, Accessoires, Tech Gadgets, Taschen, Parfüm oder Interior-Produkte können zu weiterer Frequenz führen und die Story am PoS verlängern. Aber sie dürfen nicht beliebig sein. Der Fokus liegt auf kuratierten Ergänzungen, nicht auf zusätzlichem Warendruck. Auch darf kein Ungleichgewicht innerhalb des Sortiments entstehen. An dieser Stelle erinnere ich an den E-Bike-Boom, als ganze Flächen gefüllt mit Fahrrädern waren.“
Um den Saisonwechsel nachzuzeichnen, bringen Vertikale auch monatliche Liefertermine ins Spiel. Kleinere Mengen, schnellere Wechsel auf der Fläche. Kann das die Lösung sein, auch im klassischen zweistufigen Handel Warenüberhänge zu reduzieren, sogar zu vermeiden, oder sind weniger Ware und Slow Fashion die bessere Antwort?
„Teilweise. Kleinere Mengen in kürzeren Intervallen können helfen, besser zu steuern. Doch das erfordert ein Umdenken in der Logistik, auf der Fläche und bei den Prozessen. Der zweistufige Handel muss hier digitaler, agiler und mutiger werden. Langfristig führt kein Weg an einer Mischung aus smartem NOS, schnell rotierenden Kapselkollektionen und bewusster Reduktion vorbei. Darüber hinaus müssen wir uns bewusst machen, dass die aktuellen Liefertermine einiger Lieferanten einfach viel zu lang und ineffizient sind.“
Immer wieder taucht auch der Wunsch auf, im Saisonverlauf nachfrageorientiert zu produzieren und zu verkaufen. Wie weit sind wir gerade im zweistufigen Handel davon entfernt?
„Besonders im vertikalen Bereich ist das bereits gängige Praxis. Für den zweistufigen Handel gestaltet sich die Umsetzung noch etwas schwieriger und es sind deutlich mehr Prozesse zu durchlaufen. Wichtigster Hebel hierfür stellen Daten dar. Wer Abverkaufsdaten intelligent nutzt und sie mit Lieferanten teilt, kann flexible Modelle aufbauen. Aber das braucht Vertrauen, Forecasting und digitale Schnittstellen – daran hapert es oft noch. Der nächste Schritt sind dann die Produktion und die Logistik. Es bedingt also Veränderung entlang der gesamten Wertschöpfungskette.“
Der Interviewpartner
Julian Krüger ist Sales Consultant bei hachmeister + partner. Er unterstützt Händler und Marken bei der Auswahl und Implementierung der h + p-Tools, wie dem CRM-Portal (KAP), Benchmarking-Lösungen oder KI-Replenishment-Systemen. Seine Einschätzungen beruhen auf Marktdaten, Beratungserfahrung und analytischem Background.