
Autor: Markus OessIn einem Jahr globaler Krisen feiert die italienische Schuhindustrie gleich zwei Jubiläen: 80 Jahre Branchenverband und die 100. Ausgabe der MICAM. Assocalzaturifici-Präsidentin Giovanna Ceolini spricht über strukturelle Risiken, Chancen für kleine Marken, Nachhaltigkeit und die Zukunft des Messeformats. Sie beschreibt, wie geopolitische Spannungen, Protektionismus und verändertes Konsumentenverhalten die Branche fordern, warum Resilienz inzwischen Teil der DNA geworden ist und wie die Messe als Plattform für Inspiration und Geschäft gleichermaßen dient.
FASHION TODAY: Frau Ceolini, die italienische Schuhindustrie steht unter Druck – wo sehen Sie derzeit die größten strukturellen Risiken für Ihre Mitgliedsunternehmen?
Giovanna Ceolini: „Die italienische Schuhindustrie hat schon immer in komplexen Umfeldern bestanden. Auch wenn die aktuellen globalen Herausforderungen erheblich sind, sehen wir sie nicht nur als Risiken, sondern auch als Katalysatoren für Veränderungen. Die größten Belastungen – von steigenden Kosten bis zu Lieferketten-Volatilität – zwingen Unternehmen dazu, intelligenter zu innovieren und sich neu zu strukturieren. Unser Netzwerk kleiner und mittlerer Unternehmen ist agil, tief in der Handwerkskunst verwurzelt und zunehmend offen für neue Geschäftsmodelle. Unsere Aufgabe als Verband ist es, diesen Wandel mit Klarheit, Instrumenten und einer langfristigen Vision zu begleiten.“
Die Produktion ist im ersten Quartal erneut gesunken. Haben Sie konkrete Hinweise, was fehlt – Nachfrage, Finanzierung oder einfach Marktvertrauen?
„Wir sehen keinen Zusammenbruch, sondern eine Neukalibrierung. Die Verbrauchernachfrage entwickelt sich weiter, ebenso wie der Zugang der Unternehmen zu Finanzierung oder Marktvertrauen. Eher als mangelndes Vertrauen erkennen wir eine abwartende Haltung – verständlich in Zeiten geopolitischer und wirtschaftlicher Unsicherheit. Dennoch wird die Exzellenz italienischer Schuhe weltweit anerkannt. Wir investieren in die Rückgewinnung wichtiger Märkte, insbesondere über die MICAM, und sind überzeugt, dass die Nachfrage wie immer der Qualität folgen wird.“
2025 markiert das 80-jährige Bestehen Ihres Verbandes – fällt die Bilanz eher ernüchternd oder trotzig aus?
„Vor allem sind wir stolz. Acht Jahrzehnte im Dienst der Schuhindustrie bedeuten acht Jahrzehnte Resilienz, Neuerfindung und Führungsstärke. Unsere Unternehmen haben unzählige Transformationen – von der Globalisierung bis zur digitalen Disruption – überstanden und sind gestärkt daraus hervorgegangen. Dieses Jubiläum ist eine Gelegenheit, unseren Auftrag zu bekräftigen: ein strategischer Partner für all jene zu sein, die die Zukunft von „Made in Italy“ mit Kreativität, Mut und Unternehmergeist gestalten.“
100 mal MICAM
Im September feiern Sie die 100. Ausgabe der MICAM – was bedeutet dieser Meilenstein für Sie persönlich und für die Branche insgesamt?
„Das Erreichen der 100. Ausgabe ist ein Moment tiefer Emotion und Verantwortung. Die MICAM war immer mehr als eine Messe – sie ist eine Plattform für Werte, Beziehungen und Innovation. Persönlich ist es ein Privileg, Teil dieses Erbes zu sein. Für die Branche ist es eine Feier der Kontinuität und ein Beweis dafür, dass Italien weltweit weiterhin Maßstäbe für Qualität und Vision im Schuhsektor setzt.“
Was ist geplant, um diesen „100“-Meilenstein angemessen zu feiern?
„Wir haben ein besonderes Programm entwickelt, das sowohl Tradition als auch Wandel anspricht. Die Ausstellung ,100 Steps into the Future‘ wird eine kuratierte Reise durch die Entwicklung des Schuhs bieten – mit ikonischen Modellen und Geschichten, die die Branche geprägt haben. Dazu kommen internationale Panels, Kooperationen mit aufstrebenden Designern und Bereiche, die Innovation, Nachhaltigkeit und digitale Kreativität zeigen. MICAM 100 ist nicht nur eine Feier – es ist ein Startpunkt für das nächste Kapitel.“
Was wünschen Sie sich anlässlich beider Jubiläen von Ihrem Handelspartner Deutschland?
„Italien und Deutschland verbinden langjährige Beziehungen, die auf gegenseitigem Respekt und gemeinsamer Exzellenz in der Fertigung beruhen. In diesem besonderen Jahr möchten wir diese Bindung vertiefen – durch gemeinsame Innovationen, stärkere Handelssynergien und intensiveren institutionellen Dialog. Wir laden deutsche Einkäufer und Partner ein, die einzigartigen Möglichkeiten der MICAM zu erleben und gemeinsam eine nachhaltigere und dynamischere Zukunft für das europäische Mode-Ökosystem zu gestalten.“
Was soll der neue Dreijahresplan erreichen – eher Symbolpolitik oder ein Instrument für tiefgreifende Veränderungen?
„Es ist ein strategischer Fahrplan, der echte, messbare Veränderungen bewirken soll. Der Plan adressiert zentrale Prioritäten: Internationalisierung, digitale Entwicklung, Generationswechsel und Nachhaltigkeit. Er umfasst maßgeschneiderte Dienstleistungen, gemeinsame Initiativen und höhere Investitionen in Daten und Schulungen. Unser Ziel ist es, Komplexität in Chancen zu verwandeln – Unternehmen zu helfen, nicht nur zu überleben, sondern in einem sich schnell verändernden globalen Umfeld zu gedeihen.“
„Die MICAM ist heute eine multidimensionale Plattform: physisch, digital, erlebnisorientiert. Käufer kommen wegen der Produkte, bleiben aber wegen der Inspiration, der Gemeinschaft und der kuratierten Inhalte.“
Fachkräftemangel, Nachfolgeprobleme, Ausbildung – wie akut ist dieses Thema in Ihrer Branche?
„Es ist eine echte Herausforderung, aber auch eine große Chance. Das Know-how, das in der italienischen Schuhproduktion steckt, ist ein außergewöhnliches Kulturgut – und die jüngere Generation zeigt wachsendes Interesse an Handwerk und nachhaltiger Mode. Wir investieren in neue Ausbildungsmodelle, von dualen Ausbildungsprogrammen bis zu kreativen Kooperationen mit Schulen und Akademien. Brücken zwischen Tradition und Innovation zu bauen, ist entscheidend, um dieses Erbe lebendig und zukunftsfähig zu halten.“
Welche Erwartungen haben Sie an die Neuausrichtung der MICAM – reicht eine Messe allein noch, um internationale Käufer anzuziehen?
„Die MICAM ist heute eine multidimensionale Plattform: physisch, digital, erlebnisorientiert. Käufer kommen wegen der Produkte, bleiben aber wegen der Inspiration, der Gemeinschaft und der kuratierten Inhalte. Die Messe entwickelt sich zu einem 360-Grad-Ökosystem, das das Geschäft ganzjährig unterstützt – mit Tools wie Matchmaking, Storytelling-Kampagnen und datenbasierten Services. Die Stärke der MICAM liegt in ihrer Fähigkeit, sich zu erneuern und dennoch ihrer Identität treu zu bleiben.“
Lassen Sie uns über Digitalisierung sprechen – wo steht Ihre Branche heute und was fehlt noch?
„Das Bewusstsein ist vorhanden und die Nutzung wächst – insbesondere in Bereichen wie digitale Showrooms, CRM und B2B-Plattformen. Aber wir müssen die Lücke zwischen den frühen Anwendern und kleineren Unternehmen schließen. Deshalb arbeiten wir an skalierbaren Lösungen und gemeinsamen Infrastrukturen. Ziel ist es nicht nur, den Vertrieb zu digitalisieren, sondern Technologie zu nutzen, um Kreativität, Nachhaltigkeit und Effizienz entlang der gesamten Wertschöpfungskette zu fördern.“
Nachhaltigkeit steht auf jeder Agenda – welche greifbaren Fortschritte hat Ihre Branche erzielt und wo hinkt sie hinterher?
„Italienische Schuhunternehmen treiben wichtige Veränderungen voran – von Materialien mit geringer Umweltbelastung bis zu transparenteren Produktions- und Verpackungsprozessen. Viele Marken haben bereits zirkuläre Modelle und Umweltzertifizierungen eingeführt. Die Herausforderung liegt nun in der Skalierbarkeit und der Kommunikation: nachhaltige Entscheidungen wirtschaftlich tragfähig zu machen und für den Verbraucher klar sichtbar. Wir sehen Nachhaltigkeit nicht als Trend, sondern als langfristigen Geschäftswert.“
Wie stark sind Ihre Mitglieder von globalen Zoll- und Protektionismus-Trends betroffen – insbesondere in Bezug auf die USA und Asien?
„Globale Instabilität erhöht den Druck, vor allem für exportorientierte KMU. Handelsbarrieren, selbst wenn sie nur vorübergehend sind, erschweren Planung und Preisgestaltung. Dennoch sind italienische Unternehmen unglaublich einfallsreich, wenn es darum geht, neue Wege und Märkte zu erschließen. Wir setzen uns weiterhin für faire und offene Handelspolitik ein und helfen unseren Mitgliedern, ihre Präsenz in diversifizierten Regionen wie dem Nahen Osten, Afrika und Lateinamerika zu stärken.“
„Die letzten Jahre haben uns Flexibilität, digitale Bereitschaft und die Bedeutung lokaler Lieferketten gelehrt.“
Viele Marken kämpfen mit Direct-to-Consumer-Modellen, Plattformdruck und sinkenden Margen – wie können kleine italienische Labels mithalten?
„Indem sie das tun, was sie am besten können: Authentizität, Qualität und eine Geschichte bieten. DtC kann eine Chance sein, wenn es strategisch angegangen wird. Wir ermutigen Unternehmen, hybride Modelle zu entwickeln, in Nischen-Communitys zu investieren und ausgewählte Partnerschaften mit Plattformen einzugehen, die Handwerkskunst wertschätzen. Der Markt verlagert sich von Masse zu Bedeutung – und hier können italienische Marken glänzen.“
Was erwarten Sie von der italienischen Politik – kurzfristig und langfristig? Wo wird Ihr Sektor derzeit im Stich gelassen?
„Wir fordern Stabilität, Vision und Kontinuität. Kurzfristig brauchen wir Unterstützung bei Energiekosten, Zugang zu Innovationsfonds sowie Anreize für Einstellung und Ausbildung. Langfristig möchten wir, dass die Fertigung – insbesondere hochwertige, nachhaltige Fertigung – im Zentrum der nationalen Industriepolitik steht. Unser Sektor ist strategisch für das Image und die Wirtschaft Italiens: Er muss als solcher anerkannt und gefördert werden.“
Ist die italienische Schuhindustrie heute widerstandsfähiger als vor den aktuellen globalen Krisen – Krieg in der Ukraine, Handelskonflikt mit den USA, Gaza-Krieg, Ernährungsunsicherheit und mehr?
„Absolut. Die letzten Jahre haben uns Flexibilität, digitale Bereitschaft und die Bedeutung lokaler Lieferketten gelehrt. Italienische Unternehmen haben sich neu strukturiert, den Export diversifiziert und in Innovation investiert. Resilienz ist nicht länger eine Reaktion – sie wird zu einer Haltung. Und das macht die Branche nicht nur robuster, sondern auch zukunftsorientierter.“
Was gibt Ihnen die Zuversicht, dass es wieder aufwärtsgehen wird?
„Die Menschen. Hinter jedem in Italien gefertigten Schuh steckt eine Geschichte von Leidenschaft, Können und Entschlossenheit. Unsere Unternehmer reagieren nicht nur auf den Markt – sie erfinden ihn neu. Innovation passiert im Design, in der Nachhaltigkeit, in der Art, wie wir mit Kunden in Kontakt treten. Und es gibt eine erneuerte weltweite Nachfrage nach Authentizität, Qualität und Sinn – Werte, die italienisches Schuhwerk wie kein anderes verkörpert.“