Wundertüte künstliche Intelligenz

Nachgefragt

Noch stecken die Anwendungen in den Kinderschuhen – gemessen an dem, was ihnen in der Zukunft zugetraut wird. ©freepik__ai generated

Autor: Markus Oess
Eine nicht repräsentative FASHION-TODAY-Befragung aus Industrie und Handel und Verbundgruppen zeigt ein deutliches Bild: KI als Management-Tool ist schon auf den Schienen. Noch ist das Tempo gering, aber es gewinnt zusehends an Wucht. KI wird vor allem im Marketing und Vertrieb eingesetzt und soll Prozesse beschleunigen. Gleichzeitig kritisieren fast alle Befragten die digitale Infrastruktur. Mehrere Stimmen erwarten sehr wohl grundlegende Veränderungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette.

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Mit einem kurzen Fragebogen haben wir Vertreter aus Handel und Industrie angeschrieben und nach ihrer Einschätzung gefragt, wohin die Reise mit KI gehen wird und ob sich die Branche nicht schon auf den Weg gemacht hat. Die eingegangenen Antworten sind nicht repräsentativ, geben aber ein Schlaglicht darauf, wie Unternehmen KI aktuell bewerten und nutzen und welche Bedeutung der Technologie für die Zukunft zugemessen wird. Der Tenor ist eindeutig: Noch stecken die Anwendungen in den Kinderschuhen – gemessen an dem, was ihnen in der Zukunft zugetraut wird.

„Jenseits des Marketings ist insbesondere die optimale Warenverfügbarkeit wie seit jeher das Kernthema eines jeden Händlers und Herstellers. Daher sind jegliche Absatzszenarien auf Artikelebene (SKU) – unter Einbindung externer Daten und Benchmarks – von hohem Interesse“, sagt Frank Ganzasch, geschäftsführender Gesellschafter der Unternehmensberatung h + p hachmeister + partner. „In jedem KI-Projekt stehen die Daten an erster Stelle, denn ohne Daten funktionieren die Algorithmen nicht. PIM-Systeme und Datenrichtigkeit gewinnen daher weiter an Bedeutung. Nur Unternehmen, die ihre Daten systematisch erfassen, bereinigen und konsistent strukturieren und normieren, auf einer möglichst differenzierten Granularität, können KI-Anwendungen erfolgreich integrieren. Das bedeutet wiederum, dass mangelhafte oder uneinheitliche Datenstrukturen die Wirksamkeit von KI-Algorithmen deutlich einschränken. Nur der deutlich kleinere Teil der Marktteilnehmer ist aktuell ,KI-ready‘“, sagt der Berater weiter.

Prof. Dr. Ingo Rollwagen ist Experte für branchenübergreifende Innovationen, Antizipation, Beschleunigung und Management von Technologien in der Wissenswirtschaft – mit Fokus auf algorithmische Innovation und Management in Mode-, Kreativ- und Textilbranchen. Auch er sagt: „KI greift in nahezu alle Prozesse der Wertschöpfung ein – vom Design bis zum Verkauf. Bereits in der Kollektionsentwicklung, etwa mit Programmen wie CLO 3D, entstehen neue Effizienzsprünge.“ Schon in den kommenden fünf Jahren rechnet der KI-Experte mit dem Aufkommen ganz neuer Marktplayer: „Wir werden datengetriebene Marken sehen, die außerhalb klassischer Strukturen entstehen – teils durch Investoren oder Technologieunternehmen. Wenn beispielsweise Faserhersteller wie Lenzing gemeinsam mit Software-Partnern Produkte entwickeln, verschmelzen Produktion, Technologie und Marke. Über digitale Plattformen ist die Vertriebsfrage bereits gelöst. Die nächste Wachstumswelle entsteht an der Schnittstelle von KI, Materialforschung und Direktvertrieb beziehungsweise ,made-to-order‘ für bessere Produkte – eine wirkliche Amelioration von Produkten und da eröffnen mehr Daten, die mithilfe von künstlicher Intelligenz zugänglich und verwendbar werden, ungeahnte Potenziale.“

Julius Brinkmann & Markus Brinkmann, ©Jonas Mueller

So stuft die Mehrheit der Teilnehmer KI als relevant ein. Rund 65 Prozent der Unternehmen bezeichnen KI als „schon heute wichtig“, 25 Prozent sehen eine „wachsende Bedeutung“. Eingesetzt wird KI bei allen Befragten im Marketing und im Vertrieb. Einzelne Unternehmen nutzen KI darüber hinaus in Produktentwicklung, Einkauf, Finanzen oder Prozesssteuerung. Michael Kaiser, Mitinhaber der Kaiser Bekleidungs-GmbH, Kleinheubach, nutzt die digitale Intelligenz schon zeimlich breit: „Wir setzen KI in der gesamten Firma ein, insbesondere auch als Planungs- und Steuerungselement.“ Die Brinkmann Group (geantwortet haben die Gesellschafter Julius und Markus Brinkmann) plant ebenfalls einen stufenweisen Ausbau, und zwar in „allen Unternehmensbereichen und -anwendungen. In Abhängigkeit vom ,Reifegrad‘ KI.“

Investitionen und Effekte

65 Prozent der Unternehmen investieren aktuell fünfstellige Beträge in KI, 15 Prozent liegen sogar im sechsstelligen Bereich. Ralf Grossmann (Dockers by Gerli) zum Beispiel nennt rund „50.000 Euro“. Das Management hofft auf merkliche Effizienzsteigerungen und besseren Output. Beim erwarteten Potenzial zur Personaleinsparung liegen die Angaben überwiegend zwischen 5 und 20 Prozent. Die meisten Befragten wollen frei werdende Kapazitäten nicht jedoch für Personalabbau nutzen, sondern diese Ressourcen für andere Aufgaben verwenden, um so mögliche Potenziale zu heben.

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Frederick Westermann © Roy Robson

Die Erwartungen sind klar: KI soll Prozesse beschleunigen, Datenströme glätten und Entscheidungen objektivieren. „Transparenter, automatisierter, stärkere Rückkopplung entlang der Wertschöpfungskette“ erhofft sich Frederick Westermann, Geschäftsführer von ROY ROBSON). Paul Spieker von der EK Retail sieht zusätzliche Effekte: „Transparenz; Datenfluss; Personalisierung; Prognosen; Risikomanagement; neue Machtverhältnisse.“ Das führt auch zu Verschiebungen zwischen den Marktakteuren. Xaver Albrecht, Geschäftsführer unitex, rechnet folgerichtig mit neuen Anforderungen an Beziehungen: „Persönliche Beziehungen im B2B wie B2C werden relevanter und stärker wertgeschätzt.“

Michael Kaiser

Ausführlicher beschreibt Michael Kaiser seine Perspektive. Zu den Lieferantenbeziehungen sagt er: „Lieferanten werden sich mehr in den Wertschöpfungsprozess integrieren. Transparency und Compliance werden automatisiert und objektiviert. Produkterstellung, Produktionsplanung und Kapazitätssteuerung erfolgen zunehmend in Echtzeit.“Überdies weist Kaiser auf weitere Veränderungen hin, die auch die bisherige Rollenverteilung im Markt neu definieren dürften: „Der Handel und auch die Onlineplattformen werden Teile ihrer klassischen Mittlerrolle verlieren.  Sortimentsentscheidungen, Replenishment-Programme und NOS-Modelle werden automatisiert.“

Zudem kommen auf den Handel weitere Veränderungen zu, die im Umgang mit den Verbraucherinnen und Verbrauchern Anpassungen nach sich ziehen, die durchaus positiv zu bewerten sind, wie der Firmen-Chef auflistet: „Vollständige Personalisierung der Kundenansprache, virtuelle Anproben und KI-gestützte Größenberatung reduzieren Retouren. Markenbindung entsteht über datenbasierte Kenntnis individueller Vorlieben.“ Sein Fazit lautet: „Die Wertschöpfung verlagert sich von ,Produkt plus Preis‘ zu ,Produkt plus Preis plus Daten plus Prozesskompetenz‘. Unternehmen ohne digitale Prozess- und Datentiefe werden strukturell an Wettbewerbsfähigkeit verlieren.“

Mehr als 90 Prozent der Befragten kritisieren den Zustand der digitalen Infrastruktur im Land. Deutschland hinkt digital im internationalen Vergleich hinterher und es bleibt fraglich, wie viel der von der Bundesregierung vollmundig angekündigten zusätzlichen Investitionen kommen und zu spürbaren Verbesserungen führen. ETERNA-Geschäftsführer Dirk Heper formuliert es deutlich: „Im Vergleich zu anderen Ländern haben wir hier sicher aktuell großen Nachholbedarf.“ Westermann verweist auf strukturelle Defizite: „Schwäche in der Cloudstruktur (Datenschutz plus Kosten), fehlende Datenstandards und vieles mehr.“ Die Brinkmann Group ergänzt einen regulatorischen Aspekt: „Der Ausbau der EU-Datenräume ist erforderlich. Kritisch dabei ist der US CLOUD Act.“ Der CLOUD Act (Clarifying Lawful Overseas Use of Data Act) ist ein US-Gesetz aus dem Jahr 2018. Es verpflichtet US-amerikanische Unternehmen – insbesondere Cloud-Anbieter wie Microsoft, amazon, Google –, Daten herauszugeben, wenn US-Behörden diese im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens anfordern. Wichtig dabei: Die Pflicht gilt unabhängig davon, wo die Daten gespeichert sind – also auch dann, wenn sie sich in Rechenzentren in Europa befinden.

Zusammenfassend zeigt das Stimmungsbild deutliche Linien: KI wird als strategisch relevante Technologie betrachtet, die vor allem Effizienz und Transparenz verspricht. Der operative Einsatz konzentriert sich auf Marketing, Vertrieb und erste Prozessautomatisierungen. Gleichzeitig bremsen Defizite bei Infrastruktur, Datenstandards und Cloud-Strukturen den Fortschritt. Die Befragung ist nicht repräsentativ – aber sie zeigt, wohin sich die Diskussion im Markt bewegt und welche Erwartungen Entscheider entlang der Wertschöpfungskette mit KI verbinden.