„COVID-19 macht aus uns keine besseren Menschen“

Gesellschaft

„Die Menschen haben inzwischen verstanden, dass der Klimawandel da ist und wir es als Aufgabe haben, die Lebensgrundlage zukünftiger Generationen zu schützen. Die Politik hat die Zeichen erkannt und wird Spielregeln festlegen, die uns diesem Klimaziel näher bringen. Der Konsens ist da", sagt Stephan Fetsch, Head of Retail und Head of Consumer Goods bei KPMG, Köln. ©pixabay

Autor: Markus Oess
Megatrends helfen, die Zukunft besser zu ordnen, ihr eine Richtung zu geben. Auch die KPMG-Studie „Front Row: Sehen, was morgen Mode ist“ hat solche Megatrends ausgemacht. Im FT-Interview spricht Stephan Fetsch, Head of Retail und Head of Consumer Goods bei KPMG, Köln, über die Szenarien, die die Modebranche die nächsten Jahre beschäftigen wird: Flächensterben, Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Warum die nahe Zukunft gut wird.

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FT: Herr Fetsch, der Preis dominiert die Kaufentscheidungen der Deutschen. Er nimmt aber verschiedene Funktionen ein. Was ist seine wichtigste Funktion hierzulande?
Stephan Fetsch: „Die Antwort fällt gespalten aus. Für das obere Marktsegment steht der Preis auch für Qualität und Wertschätzung. Er impliziert Aussagen über ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis und er fungiert in Teilen als Statussymbol. Im unteren Marktsegment verliert der Preis tendenziell diese Eigenschaften. Die Produkte werden austauschbarer und auch wenn das Preis-Leistungs-Verhältnis immer noch wichtig ist, so wird der Preis häufig entscheidendes Kaufattribut. Dennoch streben viele Firmen die Preisführerschaft im Textilbereich an; gleichwohl ist nicht festzustellen, dass es über lange Fristen hinweg im Textilmarkt einen anerkannten Preisführer gab beziehungsweise gibt.“

Wir erhalten damit einen neuen Generationenvertrag. Die Konsumenten erwarten heute klare Spielregeln und Transparenz.“ Stephan Fetsch ©KPMG

Die Deutschen, die ihn kennen, wollen den Schlussverkauf zurück, die anderen nicht. Welche Ausweichmöglichkeiten sucht sich der klassische Ausverkauf?
„Es wird immer Schnäppchenjäger geben und sie werden immer auch Gelegenheit dazu finden. Aber wir sehen eine breitere Verteilung der Gelegenheiten, Rabattaktionen zu fahren, die für die Mode gesprochen unabhängig vom Saisonwechsel oder den Jahreszeiten sind. Nehmen Sie den Black Friday im November. Heute ist das einer der umsatzstärksten Tage im Jahr. Früher gab es Weihnachten, Ostern und den Geburtstag als Geschenkanlass, heute kommen mit der gesellschaftlichen Vielfalt neue Schenkanlässe dazu und gleichzeitig verlieren die bekannten Anlässe an Bedeutung. Weihnachten zum Beispiel besitzt für Menschen muslimischen Glaubens nicht die traditionell religiöse Bedeutung wie für viele Zentraleuropäer christlicher Prägung. Ich bin sicher, die Branche wird sich darum bemühen, auch im Frühjahr einen allgemeingültigen Anlass zu initiieren, an dem zum einen Lager geräumt werden können und zum anderen die Branche einen kräftigen Umsatzschub erhält. So wie am Black Friday im Spätjahr (was zugleich auch ein Verlagern und Abschöpfen der Weihnachtsumsätze darstellt).“

Auf der einen Seite zählt Qualität vor Image bei der Marke, auf der anderen Seite punktet der Faktor Mensch im stationären Handel besonders. Zudem ist die Beratung im stationären Handel ebenso wie die Verfügbarkeit für die Verbraucher wichtig. Dinge, die Geld kosten, aber nicht bezahlt werden wollen. Wie erklären Sie sich diesen Widerspruch, zumal sich Discounter durchaus im Marktumfeld behaupten?
„Es wurde so gelernt. Die Menschen kennen es gar nicht anders, als dass sie im stationären Handel Service, gutes Personal, volle Regale und Beratung erwarten können, ‚ohne dafür offensichtlich zu bezahlen‘. Es ist sehr schwer und langwierig, eingefahrene Verhaltensmuster und Überzeugungen aufzubrechen. Das ist im Online-Handel anders, weil es ihn noch nicht so lange gibt. Aber er hat mit den Versandkosten zu kämpfen. Während im stationären Handel der Mensch zur Ware kommt und ganz selbstverständlich die Transportkosten der eigenen Person übernimmt, kommt beim Online-Handel die Ware zum Menschen. „Traditionell“ übernimmt hier der Händler die Transportkosten. Wer die Organisation der Wegstrecke übernimmt, bezahlt auch, so ist derzeit das Muster. Es wird nicht einfach sein, eine faire Verteilung der Transportkosten durchzusetzen, beispielhaft seien hier die Retouren und die Beteiligung an deren Kosten genannt.“

Kommt es nach COVID-19 zu einer Renaissance des stationären Handels und der Innenstädte oder ist das Gedächtnis der Verbraucher doch recht kurz?
„Wer glaubt, COVID-19 macht aus uns bessere oder klügere Menschen, der irrt. Sicher hat der pandemiebedingte Lockdown dem Online-Handel einen zusätzlichen Schub gegeben. Aber die Innenstädte hatten schon vor Corona mit sinkenden Frequenzen zu kämpfen und auch der stationäre Handel hatte bereits zugunsten des digitalen Handels verloren. Die Menschen sind bequem und wenn es bequemer ist, sich die Ware ins Haus liefern zu lassen, als bei 40 Grad oder im Dauerregen selbst einkaufen zu gehen, werden sie den gewonnenen Komfort fortsetzen.

Gleichzeitig wurden neue Marktsegmente für online geöffnet, wie zum Beispiel Lebensmittel. Auch der klassische stationäre Lebensmittelhandel ist angreifbar. Vieles hängt von den logistischen Möglichkeiten ab. Aber wohin die Reise im stationären Bereich geht, können wir bei amazon sehen. Während amazon go sich auf Convenience und verzehrfertige Produkte konzentriert, bietet amazon fresh im Wesentlichen Lebensmittel an, die wegen ihrer Kühlbedürftigkeit/Komplexität/Verletzbarkeit logistisch nicht einfach zu handeln sind. Die Innenstädte werden verlieren und gleichzeitig werden dort, wo eine kritische Masse vorhanden ist, Leuchttürme entstehen. Magnete, die mit den richtigen Konzepten die richtigen Antworten auf die sich verändernden Kundenbedürfnisse geben. In vielen Innenstädten ist das Angebot meines Erachtens auf der einen Seite monoton, weil nur zufällig durch individuelle Interaktion einzelner Anbieter zusammengewürfelt. Die Stadt beziehungsweise die Lokalpolitik und Händler agieren unabgestimmt nebeneinander, statt gemeinsam nach dem Angebot zu forschen, das die Menschen auch wirklich wollen. Was wir brauchen, sind kooperative Handlungsanweisungen und damit auch abgestimmte, agglomerative Strukturen, deren Profil auf die Konsumenten des Ortes und der Region Anziehungskraft ausübt. Das gilt es zu eruieren und systematisch miteinander umzusetzen.“

 

„Sicher hat der pandemiebedingte Lockdown dem Online-Handel einen zusätzlichen Schub gegeben. Aber die Innenstädte hatten schon vor Corona mit sinkenden Frequenzen zu kämpfen und auch der stationäre Handel hatte bereits zugunsten des digitalen Handels verloren. Die Menschen sind bequem und wenn es bequemer ist, sich die Ware ins Haus liefern zu lassen, als bei 40 Grad oder im Dauerregen selbst einkaufen zu gehen, werden sie den gewonnenen Komfort fortsetzen.“

Erleben wir so etwas wie eine nachhaltige Nachhaltigkeit?
„Die Bedeutung der Nachhaltigkeit wird weiter zunehmen. Allerdings wird sie unterschiedlich interpretiert, sodass wir Regulatoren für eine internationale Standardisierung brauchen. Es besteht heute ein gesellschaftlicher Konsens, dass wir sowohl Regulatorik als auch Nachhaltigkeit benötigen. Ohne regulatorische Leitplanken, innerhalb derer dann wieder eine maximal mögliche Handlungsfreiheit erlaubt ist, wird es nicht gehen. Gesetze und staatliche Vorgaben wie das Lieferkettengesetz beziehungsweise das Sorgfaltspflichtengesetz zur Verbesserung der internationalen Menschenrechtslage oder die Lebensmittelinformations-Verordnung (LMIV) der EU sind ein Beleg dafür, dass wir zusehends auch beim Thema Nachhaltigkeit und ihren drei ESG-Säulen (Environment, Social und Governance) Regelungen erhalten, die den Handlungsspielraum definieren. Nachhaltigkeit spielt nicht nur auf der Produktebene eine Rolle, sondern auch operativ auf Unternehmensebene wird entscheidend sein, wie nachhaltig mein Geschäftsmodell ist. Es wird nicht mehr die Wirtschaftlichkeit allein über den Fortbestand eines Unternehmens entscheiden, sondern ebenso der Purpose, die Ziele, die verfolgt werden und die das Unternehmen und der Konsument gleichermaßen und gemeinschaftlich verfolgen.“  

Auch bei der Nachhaltigkeit steht der Eigennutz ganz oben, frei nach dem Motto: An meine Haut lasse ich nur Wasser und CD. Zuerst wird die Naturfaser gesehen, dann erst öko-soziale Aspekte. Ist Nachhaltigkeit in der Summe dennoch „an andere gedacht“?
„Es ist eine Mischung aus beidem und hängt von den gesellschaftlichen Werten und der Sozialisierung der Menschen ab. Aber nehmen wir das aktuelle BVG-Urteil zum Klimaschutz, wo sehr deutlich zum Ausdruck kommt, dass wir eine Verantwortung für nachfolgende Generationen haben und wir zum Handeln verpflichtet sind. Wir erhalten damit einen neuen Generationenvertrag. Die Konsumenten erwarten heute klare Spielregeln und Transparenz. Inzwischen ist Europa hier weiter als die USA. Die Nachhaltigkeitsziele der UN hinsichtlich Ökologie, Ökonomie und Sozialem sind zunächst definiert. Ihre verbindliche regulatorische Umsetzung ist natürlich in einer Demokratie weit komplexer und zeitaufwendiger als in politischen Systemen wie zum Beispiel in China. Aber sie wird kommen. Die Politik wird liefern.“

Sie haben in Ihrer Studie vier Verbrauchertypen vorgestellt, von denen wenigstens zwei den Preis beziehungsweise Preis-Leistung vor alle anderen Entscheidungen stellen, die Marke kein allzu großes Gewicht hat. Wie viel sind sie in Marktanteilen gedacht?
„Dies haben wir in unserer Studie nicht untersucht. Aber der Preis spielt natürlich immer eine Rolle. Es gibt aber Verbrauchertypen, die den Preis in Beziehung zu Dingen wie Qualität, Genuss oder Innovation setzen. Damit wird der Geldbetrag nicht allein entscheidend. Ein Beispiel ist der Secondhand-Markt, der aus der Nische und der emotionalen Ablehnung herausgekommen ist. Konsumenten kaufen bewusst Secondhand, um Ressourcen zu schonen, Einzelstücke zu finden und für einige macht der niedrigere Preis auch Marken erreichbar, die sonst einfach zu teuer wären. Re-Commerce heißt damit auch in Teilen, dass Preisschwellen sinken.“

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Was heißt das für die Marken?
„Marken werden verschiedene Zielgruppen bedienen. Zum einen den harten Kern der Markenkäufer, für die Preis, Image und Qualität zusammenpassen. Es gibt aber auch andere Zielgruppen und Communitys, wie zum Beispiel die Secondhand-Käufer. Auch das Mietmodell für Markenkleidung dürfte an Bedeutung gewinnen. Schon immer haben Menschen Kleidung gemietet, früher zwar anlassgebunden wie den Frack zum Opernball, aber heute können sie alles leasen, egal ob Auto oder Möbel. Warum nicht auch Bekleidung? Nur könnte dann unter Umständen die Markentreue nicht so hoch sein wie beim Kauf und mehr Experimentierfreude aufkommen.“

„Der Preis spielt natürlich immer eine Rolle. Es gibt aber Verbrauchertypen, die den Preis in Beziehung zu Dingen wie Qualität, Genuss oder Innovation setzen. Damit wird der Geldbetrag nicht allein entscheidend.“

Sie haben verschiedene Megatrends definiert und einmal ein Best-Case- und ein Worst-Case-Szenario entwickelt. Warum spielt der Preis bei diesen Modellen keine führende Rolle, wenn gerade Deutschland als Hort der billigen Angebote gilt?
„Der Preis wird wie gesagt immer mit über den Kauf entscheiden, mal mehr, mal weniger. Aber er ist eben nur ein Faktor von vielen. Die Gesellschaft verändert sich, neue Werte gewinnen an Bedeutung und nachfolgende Generationen machen ihren Konsum in gesteigertem Maße von Fragen der Nachhaltigkeit, der Fairness abhängig, mit der etwas hergestellt wurde. Einiges hierbei kann man bepreisen, so den CO2-Footprint. Ebenso die Arbeitsbedingungen im Sinne von Gender Equality. Anderes wird vermutlich nicht über den Preis geregelt werden, so beispielsweise Kinderarbeit in Bangladesch. Voraussetzung ist aber, dass eine faire Vergleichbarkeit durch Standardisierung sichergestellt wurde.“

Wie werden die Lösungsstrategien der Discounter (Fashion und LEH) für diese Modelle aussehen?
„Die Discounter werden genauso auf den Zug aufspringen und das Thema Nachhaltigkeit in ihrem Marktauftritt und ihren Produkten aufgreifen. Sie machen das ja heute schon. Ich glaube, in fünf Jahren werden alle namhaften Discounter einen sehr breiten Online-Auftritt haben und auch mit einer breiteren Produktpalette operieren können. Denn digital haben sie die Möglichkeit, mit ihren Kunden zu interagieren, und können herausfinden, welche Produkte sie haben möchten. Heute ist gerade im Lebensmittelhandel das Aktionsgeschäft wegen Online und modifizierter Einkaufsmuster der Konsumenten schwieriger. In der Vergangenheit hat die ,Kooperation‘ zwischen Kunde und Händler gut funktioniert, auch wenn man sich kaum kannte. Aktionsware zukünftig erfolgreich zu vermarkten, wird tendenziell nur noch mit dem Kunden funktionieren.“

Bio haben die Lebensmitteldiscounter nicht erfunden, aber sie haben für die nötigen Skaleneffekte gesorgt, frei nach dem Motto: Fertig ist besser als perfekt. Werden wir das Gleiche auch in der Mode erleben?
„Davon gehe ich aus. Wenn im Markt tatsächlich Transparenz herrscht, kauft kein Konsument ein Hemd, das durch Kinder hergestellt wurde, egal wie billig es ist. Transparenz wird hier heilsam sein und das für alle Marktteilnehmer, egal ob Discounter oder nicht. Zudem steht Nachhaltigkeit jedem Unternehmen gut. Beide Marktfaktoren zeigen in die Richtung Nachhaltigkeit: die Regulatoren und die Konsumenten. Allerdings muss man auch sagen, dass der Konsument mit dem Kopf weiter ist als mit seinem Geldbeutel.“

Was gibt Ihnen zum Schluss die Hoffnung, dass wir tatsächlich in Zukunft in der textilen Wertschöpfungskette auf bessere Zustände bauen können und die Verbraucher tatsächlich umdenken, und was müssen vor allem die Industrie und der Handel besser machen, dass wir diesem Ziel näher kommen?
„Vor allem müssen Handel und Industrie für deutlich mehr Transparenz sorgen. Die Menschen haben inzwischen verstanden, dass der Klimawandel da ist und wir es als Aufgabe haben, die Lebensgrundlage zukünftiger Generationen zu schützen. Die Politik hat die Zeichen erkannt und wird Spielregeln festlegen, die uns diesem Klimaziel näher bringen. Der Konsens ist da. Ich bin optimistisch, dass wir das schaffen, auch wenn wir bis dahin noch einige Fehler machen werden, denn vieles ist auch auf Trial and Error ausgelegt, ganz einfach, weil es nicht anders geht. Wichtig ist allerdings, dass wir die Fehler nicht wiederholen und schneller korrigieren.“

Der Interviewpartner

Stephan Fetsch ist Head of Retail und Head of Consumer Goods bei KPMG, Köln. Fetsch trat am 1. September 1995 in die KPMG ein und war von Beginn an im Bereich Financial Advisory Services/Corporate Finance tätig.

Vor dem Studium in der Schweiz und in Italien absolvierte der Berater eine Banklehre bei der Deutschen Bank AG. Nach dem Studium sammelte er zunächst als Controller Erfahrung bei einer Handelsgesellschaft im Fürstentum Liechtenstein sowie im betriebswirtschaftlichen Stab der PreussenElektra AG (heute EON AG). Fetsch ist Co-Autor der Studie „Front Row: Sehen, was morgen Mode ist – Studie Fashion 2030“.