Vorteil Fachhandel?

Systemfrage

„Ohne eine Technologie, die eine echte individuelle Interaktion mit Kundinnen und Kunden ermöglicht, wird der Handel Ende dieses Jahrzehnts nicht mehr auskommen.“ Stephan Fetsch, Head of Retail und Head of Consumer Goods bei KPMG, Köln. ©KPMG

Autorin: Eva Westhoff
Der Textileinzelhandel ist schwer gefordert, das gilt nicht erst seit der Corona-Pandemie und wird durch Insolvenzen wie die von GALERIA Karstadt Kaufhof und P&C Düsseldorf nur noch einmal unterstrichen. Sind die Kleineren den Größeren vielleicht überlegen? Was kann der stationäre Fachhandel in die Waagschale werfen, um im Wettbewerb mit dem Online-Handel zu bestehen, und wie kann er sich gegenüber den vertikal integrierten Händlern behaupten? Ein Gespräch mit Stephan Fetsch, Head of Retail und Head of Consumer Goods bei KPMG, Köln.

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FT: Mit GALERIA Karstadt Kaufhof geht Deutschlands letzte große Warenhauskette nun schon zum zweiten Mal in die Insolvenz. Zweifel an der Zukunftsfähigkeit der Betriebsform werden lauter. Ist die Zeit der stationären Vollsortimenter vorbei? Was kann der Fachhandel besser?
Stephan Fetsch: „Warenhäuser im Premiumbereich oder spezialisierte Regionalplayer funktionieren nach wie vor gut – aber nur mit dem erforderlichen Wandel des Geschäftsmodells. Und sie sind, bei allen heute sichtbaren Trends, zukunftsträchtig. Warenhäuser in der Fläche hingegen, also Großfläche in Klein- und Mittelstädten, sind ökonomisch schwierig geworden. Denn viele Großflächenplayer haben den Fokus zu spät von der Ware auf ihre Kundschaft gelenkt. Sie haben die Gravitationskraft von E-Commerce nicht rechtzeitig erkannt und weder ihren Online-Shop noch einen Marktplatz zentral im Markt positioniert und damit von der E-Commerce-Entwicklung profitiert.
Der Fachhandel dagegen hat seine klassischen Stärken behalten – tiefes Produkt-Know-how und individuelle Kundenkenntnis. Dies macht ihn für gewisse Kundengruppen unverändert attraktiv. Wichtig für den Fachhandel ist aber zu verstehen, welche Kundengruppen wachsen, welche schrumpfen und wo sich Kundenverhalten grundlegend ändert. Dazu kommt: Der Fachhandel ist generell auf einen starken ‚Footfall‘ angewiesen, den er alleine nicht erzeugen kann. Er braucht ein schlüssiges Konzept, das eine hinreichende Anzahl von Konsumentinnen und Konsumenten in die Nähe seines Geschäfts bringt. Diese Konzepte stehen, wie das Konsumentenverhalten im Allgemeinen, im Umbruch. Fachhandel, Kaufhäuser, Warenhäuser und viele andere Points of Interest bilden nur zusammen mit Entertainment, Gastronomie und Angeboten im Bereich Kultur und Gesundheit ein Ensemble, das für Konsumentinnen und Konsumenten von heute und morgen interessant ist.“  

Im März musste auch die Düsseldorfer Peek & Cloppenburg KG ein Schutzschirmverfahren beantragen, Deutschlands größter stationärer Multibrand-Modehändler. Auch hier stellt sich die Frage: Ist ein Geschäftsmodell, wie es P&C als filialisierter, nicht vertikal integrierter Großflächenanbieter verfolgt, weiterhin tragfähig?
„Grundsätzlich ja. Aber auch hier gilt es, die Präferenzen der Kundinnen und Kunden ins Visier zu nehmen und Hand in Hand mit ihnen den Wandel zu bewältigen. Online bleibt ein wichtiges Thema, das in den kommenden Jahren quer über alle Kundengruppen hinweg weiter an Bedeutung gewinnen wird. Wir sind noch nicht am Ende der Verlagerung von der Fläche in die Welt des E-Commerce angelangt – ganz im Gegenteil. Mit dem Metaverse ist zu erwarten, dass die Fläche unverändert unter Druck bleibt; hier jedoch nicht nur durch ortsungebundenen Handel, sondern auch durch den Verkauf von rein digitalen textilen Produkten und Accessoires.
Vertikalisierung wird daher dort zum Imperativ, wo Kundengruppen dies verlangen und beispielsweise Silver Ager durch Mitglieder der Gen Z ersetzt werden. Solange loyale Kundengruppen das nicht integrierte Flächenkonzept stützen, lässt sich dies auch beibehalten. Verallgemeinernd sprechen wir jedoch vermutlich über ein generationell begrenztes Zeitfenster. Zudem wird bei Großflächenspielern eines immer deutlicher: Moderne Konsumentinnen und Konsumenten sind weniger und weniger geneigt, die ‚Mühsal‘ des dritten oder vierten Stocks auf sich zu nehmen. Dieser Unwille, die oberen Stockwerke zu besuchen, fordert die Großfläche zeitnah zum Handeln auf und wird auch in diversen Konzeptänderungen von Großflächenbetreibern reflektiert.“

Wie kann der kleinbetriebliche und mittelständische Modehandel seine Stärken ausspielen und der Verdrängung durch vertikale Player wie INDITEX und H&M beziehungsweise Monolabel-Stores entgegenwirken?
„Kleine und mittlere Unternehmen im Modehandel haben es nicht einfacher als ihre großflächigen Konkurrenten. Allerdings werden für sie anders gelagerte Befähigungen kritisch werden. Dazu gehört vor allem das Verständnis, welche agglomerativen Muster, also welche Angebotskombination von Handel, Gastronomie, Entertainment, Gesundheit, Fitness sowie Services ihre Zielkundengruppen anlocken. Hierbei sitzen die kleinen und mittelständischen Händler in Teilen sogar mit den Monolabels und vertikalisierten Modellen im selben Boot. Zugleich ist es für sie auch wesentlich, Kooperationen mit anderen Anbietern im E-Commerce zu suchen. Hier gilt es, die eigene Strategie gezielt am Markt auszurichten, sei es als Fulfilment-Partner großer Plattformen mit eher geringmargigem Geschäft oder als Co-Initiator oder aktives Mitglied von regionalen Plattformen, in denen sich die Modehändler die ansonsten teils prohibitiven Kosten der Technologie teilen.“

„Wenn Händler die Neigungen ihrer Kundschaft kennen und diese aktiv zu nutzen wissen, ist das ein beachtlicher Vorteil. Eines glaube ich jedoch mit Sicherheit nicht: dass Männer onlineresistent sind.“

Eröffnen sich für den stationären Fachhandel in der Menswear besondere Chancen? Eine Kundenbefragung des EHI aus dem Jahr 2020 hat ergeben, dass Männer im Vergleich zu Frauen ihre Mode seltener online und häufiger im Ladengeschäft kaufen.
„Wenn Händler die Neigungen ihrer Kundschaft kennen und diese aktiv zu nutzen wissen, ist das ein beachtlicher Vorteil. Eines glaube ich jedoch mit Sicherheit nicht: dass Männer onlineresistent sind. Sie sind, dem EHI folgend, nur langsamer in der Adaptation von Technologie für diese Category oder waren dies zumindest im Jahr 2020. Das kann ich auch aus eigenen Studien für einzelne Bereiche bestätigen.“

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In einem übersättigten Markt geht es nicht nur darum, schnell auf Trends zu reagieren, sondern auch darum, sich von der Konkurrenz abzuheben. Eine Möglichkeit: das Bereithalten von Produktinnovationen. Kann ein Serviceangebot wie das Customizing von Kleidungsstücken vor Ort lohnen?
„Im Premium- und Luxussegment halte ich dies durchaus für denkbar. In Teilen wird es bereits praktiziert. An ein Customizing für den Massenmarkt glaube ich aber nicht. Denn es erfordert speziell geschultes und daher teures Personal sowie die notwendige Technologie vor Ort. Beides ist neben den Kosten am einzelnen PoS kaum zu skalieren, das heißt, ich kann ohne kritische Masse die Kosten nicht hinreichend absenken. Meines Erachtens ist dies gerade in den USA deutlich sichtbar: Ich war im Januar in New York und habe vier Läden besucht, die auf den Schaufenstern zur Individualisierung einluden. In keinem der vier Läden waren die Technologie und/oder die dafür ausgebildeten Mitarbeiter verfügbar. Das bestätigt mich in der Sichtweise, dass integrierte Player die Individualisierung aus dem PoS in das Online-Geschäft verlagern und hier nutzen, um die Kundeninteraktion weiter aufzuwerten.“

Mit Blick auf die wachsenden Marktanteile des Online-Handels: Wie wichtig sind Omnichannel-Konzepte? Welche Rolle spielen digitale Technologien generell für die erfolgreiche Customer Journey?
„Dauerhaft wird Omnichannel in der Breite unverzichtbar sein. Nischen werden auch weiterhin bestehen, diese werden jedoch nur sehr spezifische Marktbereiche und Kundenprofile abdecken. Heute haben wir nach wie vor viele Kundinnen und Kunden, die nicht als Digital Natives geboren wurden. Je stärker die jüngeren Generationen nachrücken und die Kaufkraft der erwerbstätigen Bevölkerung repräsentieren, umso wichtiger wird das nahtlose Zusammenspiel der Kanäle werden.
Ohne eine Technologie, die eine echte individuelle Interaktion mit der Kundschaft ermöglicht, wird der Handel Ende dieses Jahrzehnts nicht mehr auskommen. ‚The basic permission to play‘ – bis auf die sehr bewussten und gewollten Nischen – ist die Fähigkeit, Kundinnen und Kunden mit ihren Wertigkeiten und Werten zu verstehen und dort abzuholen, wo sie sich befinden, sei es im Netz oder am PoS.“

Nachhaltigkeit und Transparenz gewinnen auch in der Modebranche an Relevanz. Ergeben sich hier für den Fachhandel Optionen, das eigene Profil zu schärfen?
„Dies wird vermutlich nur begrenzt der Fall sein. Der Fachhandel im Allgemeinen ist zu klein, um seiner kompletten Supply Chain seine Anforderungen und Wünsche aufzudrücken. Ausgenommen hiervon sind ausdrücklich all diejenigen, die als Purpose genau dieses Argument verwenden und eine Zielkundengruppe binden, für die diese Werte überragende Bedeutung haben. Was wiederum belegt, dass die Kenntnis und das Vertrauen von Kundinnen und Kunden fundamental sind, um das eigene Geschäftsmodell zu positionieren.
Die Standards werden generell weiter steigen. Wir leben in einem Jahrzehnt der Regulierung und hier werden die regulatorischen Standards für viele schon zu einer massiven Herausforderung. Da die entscheidende Regulatorik auf EU-Ebene stattfindet, halte ich es für unwahrscheinlich, sie durch einzelne Branchen oder Marktteilnehmer signifikant zu beeinflussen. Insofern kann es eine sehr interessante Strategie sein, die Regulatorik nicht als primär kostentreibende Pflicht aufzufassen, sondern sie dafür zu nutzen, um eine individualisierte Ansprache und Beziehung mithilfe von Pledges, also von Zusicherungen an Kundinnen und Kunden, voranzutreiben.“