Psst, Veränderung im Anzug?

Nachgefragt

Nun, was wird mit dem Anzug? ©pixabay

Autorin: Silke Lambers
Einmal Homeoffice und zurück? In den letzten zwei Jahren sind wir nicht nur rein ins Homeoffice, sondern auch rein in den Jogger. Auf der Höhe der Pandemie schien die Zukunft des Anzugs dadurch ungewiss, Komfort rückte auf die Poleposition und Tailoring musste Ideen vom New Casual weichen. So schien es zumindest. Wer dachte, die Jogginghose wird triumphal ins Büro einziehen und wir alle werden dabei die Kontrolle über unser Leben verlieren, der hat sich allerdings geirrt. Das zeigt die Erfahrung. Wir haben deshalb mit wichtigsten Kollektionsmachern über innovative Materialien, den Style des Homeoffice und wandlungsfähige Anzüge gesprochen.

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„Für uns ändert sich der Designprozess ebenso, wie sich die Gesellschaft verändert.“ Steve Kirchner, TIGER OF SWEDEN. ©TIGER OF SWEDEN

Wie in vielen Bereichen hat die Pandemie auch bei der Konfektion wie eine Art Katalysator gewirkt und smarte Anzüge verbinden traditionelle Schneiderkunst mit modernen Ansprüchen. Entspannte Silhouetten, technische Materialien und relaxtes Styling tragen den Anzug in die Zukunft und nehmen dem einst steifen Bürobegleiter die Schwere. „Für uns ändert sich der Designprozess ebenso, wie sich die Gesellschaft verändert. Immer mehr Menschen verbringen viel Zeit zu Hause, somit war die Casualisierung ein wichtiger Aspekt dafür, eine Kollektion zu kreieren, die auf Komfort, Craftsmanship und Funktionalität basiert“, sagt Steve Kirchner, Country Director für Central Europe bei TIGER OF SWEDEN.

Der Look ist auf jeden Fall stylish.“ Holger Schmidt, BALDESSARINI ©BALDESSARINI

Also doch nicht mit der Jogger-plus-Hemd-Kombination ins Zoom Meeting? Wohl eher nicht, denn Casual muss nicht nachlässig bedeuten. Aber wie sieht er dann aus, der Anzug für das Homeoffice und darüber hinaus? Viele Konfektionäre überdenken die althergebrachte Herangehensweise an Tailoring und entwicklen neue Styles, die auch im postpandemischen Büro konventionelle Erwartungen transformieren. „Wir setzen bei den neuen Anzügen auf weiche Materialien wie Jersey und Oversized-Silhouetten. Der Look ist auf jeden Fall stylish, ganz nach dem Motto: Dress up @ your home office,“ erklärt Holger Schmidt, Produktmanager Konfektion, die Philosophie bei BALDESSARINI.

Diesen Weg bestätigt auch Ralf Klute, Division Head bei CG – Club of Gents: „Um der Casualisierung Rechnung zu tragen, haben wir einen Jersey-Anzug entworfen, der angezogen wirkt und doch Bequemlichkeit bietet. Perfekt für das wichtige Meeting per Video Call.“

Auch bei TIGER OF SWEDEN geht man neue Wege: „So sind lässige und zugleich maßgeschneiderte Styles ohne die übliche Strenge eines klassischen Anzugs entstanden. Das Hauptziel war, den Menschen Funktion und zugleich elegante Tailored Classics anzubieten.“

„Die Materialien für den Anzug der Zukunft werden vielfältig sein, aber immer alltagstauglich.“ Ralf Klute, CG CLUB of GENTS ©CG – CLUB of GENTS 

Aber heißt das auch, dass klassische Wollstoffe elastischem Jersey weichen müssen, wenn der Wunsch nach Entspannung die Materialien vorgibt? „Die Materialien für den Anzug der Zukunft werden vielfältig sein, aber immer alltagstauglich. Der Trend geht von den unterschiedlichsten Jersey-Qualitäten bis hin zu hochelastischen Wollmischungen“, sagt dazu Ralf Klute. Auch Holger Schmidt bestätigt: „Traditionelle Weber werden ihre Zugkraft nicht verlieren: Wir beobachten schon jetzt eine Evolution der wertigen Stoffzusammensetzungen, die technischer und nachhaltiger sind.“ Bei TIGER OF SWEDEN setzt man auf Materialneuheiten: „Wir arbeiten mit verschiedensten Texturen, Materialien und Silhouetten, um Klassiker weniger formell erscheinen zu lassen. Eine Mischung aus Wolle und Lyocell beispielsweise verleiht dem Stoff eine ganz besondere Haptik, die zugleich zu einem angenehmen Tragegefühl führt. Ein Travel Suit wird durch mit Cordura angereicherte Wolle strapazierfähiger.“

Neben den Materialien sind die Schnitte eine wichtige Stellschraube für den neuen Anzug. „Durch eine ausgeklügelte Schnittführung wird das Sakko weiter, bleibt aber in der Silhouette schmal. Bei der Hose wird es definitiv weiter, aber meist mit schmaler Fußweite“, beurteilt Ralf Klute die Schnitte bei CG – CLUB of GENTS. Auf die neue Weite setzt auch BALDESSARINI: „Unser L.A. Style trifft den Zeitgeist perfekt: leger, oversized und mit höchster Schneiderkunst verarbeitet. Spezielle Styles, zum Beispiel ein Zweireiher mit Gürtel und schnurgerader Hose, zeigen, wohin die Reise in Zukunft geht.“ Bei TIGER OF SWEDEN werden die Silhouetten auch durch überraschende Kombinationen aufgelockert: „Moderne Interpretationen des konventionellen Anzugs entstehen, indem beispielsweise der klassische Blazer durch ein Oversized-Shirt ersetzt und mit einer lässigen Baumwollhose kombiniert wird.“ Das Ergebnis ist ein modernes Update des klassischen Büro-Looks, der sowohl elegant als auch lässig ist.

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Klassische Wolle trifft auf Materialinnovationen ©BALDESSARINI

Heißt das alles dann, dass sich ein altes Sprichwort mal wieder bewahrheitet und Totgesagte länger leben? Dass der Bedarf an Anzügen steigt, kann Holger Schmidt bestätigen: „Wir beobachten schon jetzt eine gesteigerte Nachfrage nach konfektionierten Teilen.“ So sieht das auch Ralf Klute: „Wir merken, dass die Kunden wieder Lust auf Anzug haben. Das zeigen unsere Verkaufszahlen ganz deutlich. Allein der Anlass, einen Anzug zu tragen, hat sich geändert. Ein Anzug muss heute ein Allrounder sein und zu vielen Events passen. Sobald die sommerlichen Temperaturen zunehmen, werden auch wieder Feste gefeiert. Diese Entwicklung hat man im letzten Jahr schon gesehen. Der reine Business-Anzug muss sich anpassen.“ Mitten in der Ordersaison zeichnet sich dabei ab, welche Teile die Kunden und Kundinnen jetzt besonders anfassen. Holger Schmidt spürt dabei täglich das Feedback: „Der Relaunch der gesamten Kollektion weckt bei ihnen echte Emotionen. Das ist genau das, was die Kunden und Kundinnen im Moment wollen. Dass der Anzug dabei eine große Rolle spielt, macht natürlich unglaublich viel Freude.“ Steve Kirchner bemerkt darüber hinaus den Wunsch nach Sinnhaftigkeit in den Kollektionen: „Kunden und Kundinnen suchen nach einer Marke, die über das Aussehen hinausgeht, um ein Gefühl von etwas Sinnvollerem zu schaffen.“

Junge Kunden entdecken die Vielseitigkeit des Anzugs neu. ©CG – CLUB of GENTS

Die Angst vor dem Ende des Anzugs ist also unberechtigt, der einst steife Begleiter zu muffigen Meetings hat die letzten Jahre genutzt, um sich neu zu erfinden. „Für mich gibt es kaum ein anderes Produkt mit so viel Ausdruck und Power. Gutes Tailoring wird an seiner Kraft nicht verlieren, solange es immer wieder neu interpretiert wird“, bestätigt Holger Schmidt abschließend in unserem Interview. Ralf Klute sieht eine neue Zielgruppe für den Anzug stärker werden: „Der Anzug bekommt ein verjüngtes Image und wird vom Tailoring her mehr ,streamlined‘, weil vor allem junge Männer Anzüge nachfragen.“ Auch Steve Kirchner blickt optimistisch in die Zukunft: „Unser Kunde entscheidet sich für Tailoring als Ausdrucksmittel, um ein modisches Statement in seinem Alltag zu setzen, anstatt Tailoring mit formeller Kleidung gleichzusetzen. Wir werden den Bereich auch mit genderfluiden Kollektionen sowie maßgeschneiderten Silhouetten weiterentwickeln.“

Dem Anzug steht also eine variantenreiche Zukunft bevor. Egal ob im Büro oder zum Anlass, Materialinnovationen, neu gedachte Silhouetten und Kombinationen mit weniger restriktiven Looks wie Denim erneuern ihn ganz besonders auch für die jüngere Käuferschicht. Wenn der Anzug neu gedacht wird, bleibt er auch weiterhin relevant.

Wie bedanken uns bei unseren Interview-Partnern Steve Kirchner, Holger Schmidt und Ralf Klute.