Die 15-Minuten-Stadt

Urbanisierung

„Die Bedeutung der lokalen Identität, mein Kiez, wird steigen. Gleichzeitig bin ich aber auch Berliner, Deutscher, Europäer, Weltbürger ..." Der Zukunftsforscher Tristan Horx ©Zukunftsinstitut

Autor: Markus Oess
Im Zukunftsreport 2022 des Zukunftsinstituts, Frankfurt, geht es unter anderem um die Stadt und was die Pandemie mit ihr macht. Wir haben mit Tristan Horx vom Frankfurter Zukunftsinstitut gesprochen, das vier Thesen zum Megatrend Urbanisierung postuliert hat. Warum wir zuversichtlicher werden sollten.

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These 1: Urbane Resilienz macht Städte krisensicher.

Städte sind aufgrund ihrer Dichte und Diversität krisenanfällig, aber auch besser in der Krisenbewältigung. Zukunftsfähige Städte setzen auf urbane Resilienz: Dabei werden flexible Wohn-, Arbeits- und Bildungsmodelle entwickelt, die bei Bedarf schnell an neue Situationen angepasst werden können. Die Stadt von morgen ist dynamisch und adaptiv.

Die Stadt ist ein zentrales Thema im aktuellen Zukunftsreport 2022. ©Zukunftsinstitut

FT: Herr Horx, in Ihrem letzten Zukunftsbericht 2021 stellen Sie vier Thesen auf. Demnach wird sich die Stadt auch in Zukunft schnell auf Krisen und Herausforderungen wie eine Pandemie einstellen und anpassen können. Stichwort urbane Resilienz. Was leiten Sie daraus für die postpandemische Stadt ab?
Tristan Horx:Die Stadt setzt sich aus vielen heterogenen Bausteinen, Komplexen zusammen. Ich ziehe hier gern den Vergleich zur Biologie. Nehmen wir den Borkenkäfer. Befällt der eine Monokultur, hat der Wald so gut wie keine Chance. Ein gesunder, artenreicher Mischwald dagegen wird mit dem Parasiten zurechtkommen. Eine vitale Stadt, die viele Gesellschaftsschichten und Kulturen beheimatet, wird auch mit den gesellschaftlichen Herausforderungen einer Pandemie besser zurechtkommen, weil sich verschiedene Lebensentwürfe daran versuchen und nicht nur einer. Im Stadtdesign wird es zu Anpassungen kommen, etwa was die Organisation von sozialen Räumen angeht, die heute ein Impfzentrum beherbergen und morgen eine Unterkunft für Geflüchtete sind. Auch werden wir lernen, uns sozial besser abzustimmen und gegenseitig zu unterstützen, angefangen von der breiten Notfallversorgung bis hin zur Nachbarschaftshilfe. Zusammenfassend können wir sagen, dass die pandemische Stadt wesentlich agiler und beweglicher sein wird.“

Ist die Sorge um tote Innenstädte also unbegründet, weil sich die Städte aus sich heraus heilen und neu erfinden können?
„Wir müssten erst einmal definieren, was wir unter einer Innenstadt verstehen. Generell leiden urbane Zentren aktuell wohl eher unter mangelndem Tourismus, der aber zurückkommen wird, wenn die Pandemie wieder verschwindet. Aber die Stadt verliert im Augenblick. So sagt heute schon ein Drittel der 16- bis 34-Jährigen, sie würden lieber auf dem Land leben. Der Hauptgrund für städtisches Leben ist die Arbeit, sei es früher der industrielle Arbeitsplatz gewesen, sei es heute der städtische Büro- oder Kreativjob. Inzwischen zeigen uns gelebtes Homeoffice und Digitalisierung, dass ich nicht mehr in der Stadt leben muss, um solche Jobs anzunehmen. Trotzdem bin ich mir sicher, dass die Stadt als Ort kultureller Zentren gewissermaßen als Hort menschlichen Zusammenlebens weiter bestehen und sich den neuen Gegebenheiten anpassen wird. Sie wird sich neu erfinden und neue Lebensangebote schaffen, also neue soziale Räume des zwischenmenschlichen Lebens auf der einen und neue Mobilität auf der anderen Seite.“

Können Sie uns ein Beispiel nennen, das Anlass zur Hoffnung gibt, etwa im sozialen Wohnungsbau?
„Normalerweise lassen sich die Top-5-Parameter für die Wohnortwahl wie Platz, bezahlbarer Wohnraum oder Ruhe vom Land besser erfüllen. Der soziale Wohnungsbau ist natürlich ein ganz zentrales Thema. Besser gesagt, bezahlbarer Wohnraum. Es kann nicht sein, dass Menschen mehr als die Hälfte ihres Einkommens fürs Wohnen ausgeben müssen und auf der anderen Seite neben schlechten beziehungsweise beengten Lebensbedingungen auch noch lange Anfahrtswege zu ihrem Arbeitsplatz in Kauf nehmen müssen, weil sie sich keine andere Wohnung oder keinen anderen Wohnort leisten können. Im Grunde schließen sich sozialer Wohnungsbau und Privatwirtschaft aus, weil beide konträre Ziele verfolgen. Ein positives Beispiel ist Wien, wo die Mieten eben aufgrund des ausreichenden Angebotes zu noch fairen Bedingungen bezahlbar sind.“

These 2: Urbanität wird zur Mindset-Frage.

Die Dichotomie von Stadt und Land löst sich immer weiter auf – es entstehen hybride und fluide Lebensräume. Individualisierte Lebensmodelle und Pluralisierung erreichen das Land, dörfliche Strukturen bilden sich auch in der Stadt. Die progressive Provinz wird zum Experimentierraum für soziale Innovation.

FT: Urbanität werde zum Mindset, sagen Sie zweitens. Die Gegensätze von Stadt und Land lösen sich auf, in der Stadt und auf dem Land bilden sich hybride Lebensformen, die sich wechselseitig befruchten. So werden sich in den Städten dörfliche Strukturen bilden. Gut zu sehen ist das an Berlin, das im Laufe der Geschichte aus verschiedenen Ansiedlungen regelrecht zu einem Gebilde zusammengewachsen ist; der Kiez, der Erlebnisraum ist geblieben. Wenn die Stadt zum Experimentierraum für soziale Innovation wird, welche Experimente kommen Ihnen in den Sinn?
Tristan Horx: „Alles, was wir unter der Präambel ,Co‘ zusammenfassen können. Angefangen vom Co-Living, das im Grunde nur die Urform des Zusammenlebens darstellt, über Co-Gardening bis zu Co-Working. Wir lernen wieder die Vorzüge des menschlichen Zusammenlebens, der Solidarität zu schätzen. Diese Modelle werden natürlich auch in den ländlichen Raum getragen und umgekehrt. Nehmen Sie nur das Modell des generationenübergreifenden Wohnens, das nichts anderes abbildet als die dörfliche Urgemeinschaft. Das alles hängt von der Dynamik des Mindsets ab, ist sie hoch, werden die Veränderungen schneller kommen. Auch hier sehen wir wieder die Vorteile einer heterogenen, vielfältigen Gesellschaft. Wenn es gelingt, auch die Flüchtenden so zu integrieren, dass sie gestalterischer Teil unserer Gesellschaft werden, werden sie uns helfen, unsere Anpassungs- und Konfliktfähigkeit zu erhöhen.“

Wie kann das Zusammenspiel von Arbeit, Freizeit, Kultur und Einkauf aussehen? Werden wir künftig in autarken Stadtvierteln leben, die sich dann eher zufällig zu einem großen Gebilde wie Berlin zusammenfügen, oder lebt die Stadt doch als Gesamtorganismus?
„Das Beispiel Berlin zeigt es ganz gut, wo regionale und lokale Identitäten, also Stadt und Kiez, parallel bestehen. Es gibt also kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch. Die Bedeutung der lokalen Identität, mein Kiez, wird steigen. Gleichzeitig bin ich aber auch Berliner, Deutscher, Europäer, Weltbürger …“

These 3: Die urbane Nachbarschaft erlebt ein Comeback.

Nachbarschaftsplanung ist aus aktuellen Stadtentwicklungskonzepten nicht mehr wegzudenken. Ansätze wie die 15-Minuten-Stadt, Superblocks oder Vertical Villages reagieren auf die Mobilitätswende und den Klimawandel ebenso wie auf das wachsende Bedürfnis nach sozialer Nähe im Wohnumfeld. Der Kiez wird zum zentralsten Element der segmentierten Stadt.

FT: Die urbane Nachbarschaft erlebt ein Comeback. Kann diese These als Fortschreibung der vorangehenden These verstanden werden, als eine Interpretation davon?
Tristan Horx: „Im Grunde kann man das so lesen. Sie kennen ja das Paradoxon der urbanen Isolation. Auf der einen Seite wachsen die Städte weltweit an, auf der anderen Seite sehen wir, wie gerade in unserer Gesellschaft die Vereinsamung der Menschen weiter zunimmt, obwohl immer mehr Menschen an einem Ort zusammenleben.“

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Heißt das im Umkehrschluss der Mobilitätswende, dass die Anlässe, auch innerstädtisch sich fortzubewegen, künftig weniger werden, wir nicht ein Stadtzentrum haben, sondern viele?
„Viele sprechen mittlerweile von der 15-Minuten-Stadt. Urbane Zentren, in denen innerhalb des genannten Zeitraumes alles für jeden erreichbar ist: Arbeit Einkauf, Kultur und Freizeit. Damit erübrigt sich die Notwendigkeit, von A nach B zu fahren. Die urbane Mobilität außerhalb des Kiezes, der 15-Minuten-Stadt, wird sinken, weil der Grund dafür wegfällt. Zumal Lieferdienste in der Stadt dafür sorgen, dass die Ware zu mir kommt und nicht mehr umgekehrt.“

Wenn sich in diesem Zusammenhang Stadt und Land weiter annähern, das Zusammenleben wieder ein stärkerer sozialer Akt wird und nicht das Nebeneinanderleben einzelner Individuen, was passiert mit der Kultur?
„Wir werden fast schon zwangsläufig zu einem intensiveren Austausch der Kulturen kommen, wenn sich die Menschen in den Städten wieder intensiver und häufiger begegnen. Wir müssen fortkommen, städtebaulich mit den Wohnsilos die Bubbles im Internet nachzubauen. Es geht darum, Anreize für den Dialog und Austausch zu schaffen. Gelingt uns das nicht, verkommt der Kiez zum Getto, so, wie wir es heute schon in den Großstädten sehen. Die Menschen haben Angst vor dem Unbekannten. Beispielsweise ist die Ablehnung von Geflüchteten dort am größten, wo man sie am wenigsten antrifft – auf dem platten Land. Also müssen die Menschen das Unbekannte kennenlernen.“

Welche Bedeutung erhält dann die Einkaufswelt? Wie und wo werden wir einkaufen? Treten dann individuelle Konsumwünsche stärker in den Hintergrund, weil wieder mehr Gemeinschaft gelebt wird, oder dient Konsum in diesem Zusammenhang als Ventil für die Sehnsucht nach Individualität?
„Auf der einen Seite nimmt der lokale und regionale Bezug des Einkaufs zu. Das Siegel ‚Made in Germany‘ schafft bei den Konsumentinnen und Konsumenten per se Vertrauen, ohne dass es über das Produkt selbst etwas aussagt. Auf der anderen Seite entscheiden heute auch die Bedingungen seiner Herstellung, die Zusammensetzung und der Transport über den Kauf eines Produktes. Kommen diese Fragen weiter zum Tragen, wird sich der Einkauf der Basics ins Regionale verlagern, zumindest da, wo es machbar ist. In dem Falle dient dann der Konsum als Belohnung, als Lustkauf tatsächlich dem Ausdruck der Individualität und das Produkt darf dann auch gerne besonders sein.“

These 4: Städte der Zukunft sind sozial, klimagerecht und gesund.

Das individuelle menschliche Wohlergehen ist unweigerlich und untrennbar mit der unmittelbaren Umgebung verbunden – und kann damit auch nicht losgelöst von der gesamt- gesellschaftlichen Gesundheit und der natürlichen wie künstlichen Umwelt betrachtet werden. Soziale Gerechtigkeit, Klimawandel und Gesundheit werden unwiderruflich Teil der Stadtplanung.

FT: Städte der Zukunft sind sozial, klimagerecht und gesund, lautet die vierte These. Steckt hinter dieser These viel Optimismus oder die „Re-Gnose“, die Ihr Vater, Matthias Horx, als ein Gedankenexperiment beschreibt, in dem wir uns in ein wahrscheinliches Morgen versetzen, um der „Salienz-Verzerrung“ zu entgehen, in der die negativen Signale überhöht werden und sich zu einem pessimistischen Zukunftsbild zusammenfügen?
Tristan Horx: „Es ist ein gedanklicher Gegenentwurf. Bekanntlich macht alles Graue unsere Seele krank. Wir sollten die Trendumkehr in der Urbanisierung einleiten, wegkommen von ‚immer höher, immer weiter‘. Die Menschen sind erst zu Änderungen bereit, wenn sie die Konsequenzen, es nicht zu tun, zu spüren bekommen. Ein Sommer in der Großstadt mit Hitzewellen von 40 Grad Celsius und mehr ist unerträglich, aber Realität. Ich glaube, solche Erlebnisse sind eine gute Motivation, den Wandel herbeizuführen. Egal, ob wir vom Klimawandel sprechen oder von der ungebremsten Versiegelung unserer Innenstädte.“

Welche Gründe bringen Sie zu der Annahme, dass die Stadt der Zukunft sozial, klimagerecht und gesund sein wird? Wenn wir auf die aktuellen Ereignisse in der Welt schauen, kann kaum vom Sieg der Vernunft gesprochen werden.
„Sie haben natürlich recht. Donald Trump, Jair Bolsonaro oder Wladimir Putin sind Vertreter eines unseligen Politik- und Regierungsverständnisses einer überaus verzerrten Selbstwahrnehmung. Sie sind aber auch nicht zufällig alle weiße, alte Männer, die untergehen werden. Verzeihen Sie mir, wenn ich das sage, aber das Problem wird sich biologisch lösen. Die junge Generation, die völlig anders denkt und sozialisiert ist und es besser machen wird, ist noch nicht an der Macht. Das wird die Zeit ändern.“

Mode ist immer auch Ausdruck des Zeitgeistes. Bleiben wir wenigstens modisch, wie wir sind, oder wird es auch hier Veränderungen geben, die über Schnitt, Farbe und Muster hinausgehen?
„Ich bin zwar kein Modeexperte, aber in der Außenbetrachtung habe ich durchaus zur Kenntnis genommen, dass Fast Fashion ordentlich durch die Mangel genommen und als das enttarnt wurde, was es ist: eine Belastung für diese Welt. Besonders die junge Generation hat dies erkannt und vor allem handelt sie danach. Wir sollten ihr unbedingt vertrauen.“

Der Interviewpartner

Seit seinem 24. Lebensjahr steht Tristan Horx als Speaker aus der Generation Y auf internationalen Bühnen. Sein Thema ist die Zukunft. Geboren wurde er knapp vor der Jahrtausendwende und zählt damit zur Zielgruppe der Millennials. Aufgewachsen in einer Zukunftsforscher-Familie, erlebt Tristan von früh an in einem natürlichen Mikrokosmos den Perspektiven-Clash des Generationssystems.

Mit dem Instinkt des Zuhörers und dem Interesse an Zukunftsthemen wächst er schnell in seine Rolle als Gesprächspartner, Referent und Publizist der Generation Y. Als Autor diverser Publikationen rückt er visionäre Szenarien seines Themenspektrums wie die Zukunft der Digitalisierung, Mobilität, Globalisierung und Nachhaltigkeit in den Fokus. Zudem ist Tristan Horx Dozent an der SRH Hochschule Heidelberg und an der Fachhochschule Wieselburg sowie seit 2019 Kolumnist bei der Kronen Zeitung.