New Work

Arbeiten 20.22

Es geht nur gemeinsam: Mitarbeitende und Unternehmen müssen sich einbringen, um den Transformationsprozess zu meistern. ©Freepik Pro

Autor: Maximilian Fuchs
New Work ist ein Sammelbegriff für verschiedene neue Formen der Arbeit, die durch den Einsatz moderner Technologien, eine stärkere Fokussierung auf die Bedürfnisse der Mitarbeitenden sowie eine flexiblere Gestaltung der Arbeitszeiten und -orte gekennzeichnet sind. Doch wie kann sich New Work im Handel, auf der Fläche, durchsetzen und wie lässt es sich gestalten?

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Die Arbeitswelt von morgen

Die Menschen verändern sich, die Technologie entwickelt sich weiter und die Wirtschaft verändert sich ebenfalls durch die besonderen Herausforderungen unserer Zeit, in schnellem Tempo. In diesem Wandel befinden wir uns auch in der Arbeitswelt, nicht zuletzt seit der Pandemie, die als Beschleuniger neue Strukturen und Arbeitsmodelle etablieren ließ. Immer mehr Menschen können ihre Arbeit zumeist orts- und zeitunabhängig erledigen. Für Unternehmen bedeutet New Work vor allem eine Erweiterung des Talentpools. Denn durch die Möglichkeit, ortsunabhängig zu arbeiten, können Unternehmen auf der ganzen Welt nach den besten Köpfen suchen. Zudem können Unternehmen durch die flexible Gestaltung auf die individuellen Bedürfnisse ihrer Mitarbeiter eingehen und so ein attraktiveres Arbeitsumfeld schaffen. Für Arbeitnehmende bietet New Work vor allem mehr Flexibilität und Autonomie. Sie können ihre Arbeit selbstbestimmt gestalten und haben so mehr Einfluss auf ihr Leben und ihre Karriere. Wir haben uns mit Ulrike Witt, Leiterin des Forschungsbereichs Personal beim EHI, darüber unterhalten, wie genau der Ansatz in der Praxis funktioniert und welche New-Work-Instrumente es für stationäre Händler gibt, die auf ihre Mitarbeitenden vor Ort angewiesen sind.

Ulrike Witt, Leiterin des Forschungsbereichs Personal beim EHI Retail Institute in Köln ©EHI Retail Institute

FT: Frau Witt, die Corona-Pandemie hat „New Work“ für viele Menschen sehr greifbar gemacht, Remote Work ist inzwischen voll angekommen. Wie kann der New-Work-Ansatz im Handel auf der Fläche greifen?
Ulrike Witt: „New Work meint natürlich bei Weitem nicht nur Remote Work, auch wenn die flexible Wahl des Arbeitsortes eine wichtige Facette davon ist. Es geht bei New Work eher um ein grundsätzlich neues Verständnis von Arbeit. Das bedeutet nicht nur die digitale Transformation von Arbeitsprozessen in einer immer komplexeren Welt. Das beinhaltet auch eine veränderte Erwartungshaltung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Bezug auf Freiheit und Teilhabe, Selbstbestimmung sowie Sinnstiftung durch Arbeit. Und genau hier kann New Work auf der Fläche ansetzen. Naheliegenderweise können Mitarbeitende nicht von zu Hause oder von unterwegs aus arbeiten. Aber sie können mitbestimmen, wann und wie sie arbeiten. Moderne Personaleinsatzplanungs-Apps beispielsweise ermöglichen den Mitarbeitenden einer oder mehrerer Filialen eine selbstbestimmte und eigenverantwortliche Verteilung der Schichten. Dass das funktioniert, beweisen Beispiele aus der Praxis. Außerdem kann das Personal in manche Entscheidungen, die die Filiale betreffen, miteinbezogen werden. Damit zeigt man, dass die Meinung und Erfahrung der Mitarbeitenden einen Wert haben. Wertschätzung ist sowieso das Zauberwort, um Menschen für eine Arbeit zu begeistern.“ 

Wie schafft man es als Handelsunternehmen, sich auf diese Transformation einzustellen? Was braucht es auf Unternehmens- und Beschäftigtenseite?
Offenheit, Lernbereitschaft und Verständnis. Sowohl von Unternehmens- als auch von Mitarbeitendenseite aus. Wer offen für Neues sowie lernwillig ist und obendrein Verständnis für die Bedenken und Nöte des Gegenübers aufbringt, der kann jeglicher Transformation gelassen entgegensehen. Aber so einfach ist es natürlich nicht. 

Die Digitalisierung ist ein enormer Einflussfaktor und Enabler, wenn wir über Veränderungen in der Arbeitswelt sprechen. Die Einführung neuer Technologien in den Handelszentralen und in den Märkten schafft viele Erleichterungen, erfordert aber auch neue Kompetenzen und Qualifikationen. Mitarbeitende sollten deshalb im Transformationsprozess mit einer transparenten und vertrauensschaffenden Kommunikation aktiv ,an die Hand genommen‘ werden. Menschen sehen Veränderungen ja meistens erst mal kritisch, selbst wenn diese mittelfristig positiv sind. Die Bereitschaft der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, neue Wege einzuschlagen, ist nicht automatisch vorhanden, auch nicht bei Führungskräften. Aber es gibt in jedem Unternehmen Menschen, die Neuem gegenüber eher aufgeschlossen sind, und andere, die eher verhalten reagieren. Das zu erkennen, ist schon mal wichtig. Die Aufgeschlossenen kann man dann zum Beispiel als vermittelnde Instanzen einsetzen und entsprechend schulen. Der Transformationsprozess im Sinne von New Work entwickelt sich ja nicht hierarchisch von oben nach unten erfolgreich, sondern indem netzwerkartig viele Projekte angeschoben werden.

Wenn neue Kompetenzen erforderlich sind, rücken naturgemäß die Themen Learning und Personalentwicklung stärker in den Fokus. Personal gezielt zu schulen und im Unternehmen zu halten beziehungsweise neue Talente mit entsprechenden Angeboten zu überzeugen und für das Unternehmen zu gewinnen, ist auch im Hinblick auf die allgemeine Arbeitsmarktsituation – demografischer Wandel, Fluktuation und anhaltender Fachkräftemangel – keine schlechte Idee. Aus unserer Forschung wissen wir, dass Handelsunternehmen für Personalentwicklung ein erhöhtes Budget zur Verfügung stellen, unter anderem für die Qualifikation von Führungskräften. Dabei sollte es nicht nur um fachliche Weiterbildungen gehen, sondern beispielsweise auch um ein neues Verständnis von Hierarchie und Führungskultur.“

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Quiet Quitting ist ein neuer Trend, der Sorge bereitet. Was können Unternehmen tun, um dem entgegenzuwirken?
„Beim Quiet Quitting geht es ja nicht um eine innere Kündigung, sondern eher um eine etwas modernere Version von ,Dienst nach Vorschrift‘, also genau die Arbeit zu tun, für die man bezahlt wird. Wenn auffallend viele Mitarbeitende innerlich kündigen, kann man davon ausgehen, dass irgendetwas mit den Arbeitsbedingungen nicht stimmt – und dann eine entsprechende Lösung finden. Beim Quiet Quitting sieht das Ganze etwas komplexer aus. Denn grundsätzlich ist es völlig okay, wenn Menschen nicht gewillt sind, sich quasi unentgeltlich für ein Unternehmen zu engagieren – sei es durch Überstunden, sei es durch besonderen Einsatz. Das ist auch nicht besonders neu. Neu ist, dass der Job an sich in Relation zum übrigen Leben an Bedeutung verloren hat – Stichwort Work-Life-Balance – und dass sich aufgrund des Fachkräftemangels der Arbeitsmarkt verändert hat, Fachkräfte also selbstbewusst Forderungen stellen können.  

Dass eine wertschätzende Unternehmenskultur, in der beispielsweise Fehler gemacht werden dürfen und in der Mitarbeitende angemessene Arbeitsbedingungen vorfinden, die Basis ist, um ein Phänomen wie Quiet Quitting möglichst gering zu halten, versteht sich von selbst. Unternehmen sollten darüber hinaus die Perspektive wechseln und sich die Frage stellen, was Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter veranlassen könnte, sich mehr oder weniger stark zu involvieren. Was haben sie davon? Was könnte ein Anreiz sein? Finanzielle Belohnungen und Karriereschritte sind hier nach wie vor ein relevanter Faktor. Aber es geht nicht nur um Geld und Positionen. Häufig wird Engagement schlicht nicht gesehen, manchmal, weil Hierarchien die Sichtbarkeit verhindern. Das frustriert auf Dauer und führt dann zu einer Reduktion des Engagements. Oder es werden bei Entscheidungen die Betroffenen nicht eingebunden, obwohl diese aufgrund ihrer Erfahrung wichtigen Input geben könnten. Auch werden Vorschläge oder Ideen aus den eigenen Reihen von manchen Führungskräften nicht ernst genommen. Das frustriert genauso. Eine offene und transparente Struktur im Sinne von New Work und agile Projektarbeit sind hier durchaus hilfreich, denn so können engagierte Beschäftigte sichtbar etwas bewirken. Wie bereits gesagt, ist auch ein neues Verständnis von Führung gefragt, Führung im Sinne von Potenzialentfaltung. Im Idealfall betrachtet man jeden Mitarbeiter, jede Mitarbeiterin individuell. Welche Kenntnisse und Fähigkeiten hat die Person, welche Skills könnte man fördern, welche Erwartungen und Ziele sind vorhanden? Um diese Daten zu erheben und auszuwerten, gibt es heute zum Glück technologische Möglichkeiten. Es geht darum, besondere Leistung oder überdurchschnittliches Engagement zu erkennen und dann entsprechend wertzuschätzen und zu honorieren, in welcher Form auch immer.“  

Welches Potenzial sehen Sie hierzulande für Conversational Commerce? Wird dieses KI-gestützte „Verkaufspersonal“ das Personalproblem auf der Fläche entspannen?
„Im Onlineshop sind Messaging-Dienste, digitale Sprachassistenten oder Chatbots sicher gute Lösungen, um ein Verkaufsgespräch zu simulieren und Kundinnen und Kunden mit individuellen Informationen zu versorgen. Grundsätzlich kann ich mir etwas in der Art auch für den stationären Handel vorstellen. Es gibt ja bereits Geschäfte, die ohne Verkaufspersonal auskommen, zum Beispiel teo von tegut, warum sollten da nicht auch KI-gestützte Anwendungen für die individuelle Kundenansprache zum Einsatz kommen? Angesichts des Personalproblems auf der Fläche ist es vielleicht mittelfristig eine Lösung, automatisiert Waren einräumen zu lassen, ausschließlich auf Self-Checkout zu setzen und einen mitdenkenden Roboter die Fragen der Kundschaft beantworten oder Angebote präsentieren zu lassen. Auf der anderen Seite ist Einkaufen auch ein Event, ein geselliger Faktor. Das Plaudern mit einem Verkäufer in der Modeboutique oder mit der Expertin im Fachmarkt gehört da einfach dazu. Ich persönlich denke, dass es in mittlerer Zukunft zu einem Mix kommen wird aus personalfreien Geschäften und stark serviceorientierten Läden mit Personal vor Ort. Es stellt sich dann die Frage, inwieweit das dem Personalmangel wirklich etwas entgegensetzt – man braucht dann zwar weniger Verkaufs- oder Kassenpersonal, dafür aber umso mehr IT-Experten. Außerdem stellt sich die Frage nach dem Energieaufwand, der möglicherweise zukünftig ein noch relevanterer Faktor sein wird.  

Letztlich können wir nicht in die Zukunft gucken. Wir versuchen aber, genau dieses Thema näher zu beleuchten, und starten nächstes Jahr das Szenarioprojekt ,Future of Work in Retail‘, in dem wir wahrscheinliche Zukünfte der Arbeitswelt stationärer Einzelhandel wissenschaftlich erarbeiten. In einem Jahr kann ich Ihnen also sicher fundierter auf Ihre Frage antworten.“