„Kein Zurück zum alten Normalbetrieb“

Brexit-Folgen

„Die britische Wirtschaft erholt sich langsamer von der Pandemie als die meisten anderen Volkswirtschaften in Europa." Dr. Holger Schmieding, Chefvolkswirt der BERENBERG Bank ©BERENBERG Bank

Autor: Markus Oess
BERENBERG-Chefvolkswirt Dr. Holger Schmieding gilt als einer der profiliertesten Banken-Volkswirte in Europa und hat sich intensiv auch mit dem Brexit und seinen Folgen beschäftigt. Für ihn haben sich die Befürchtungen bestätigt. Die britische Volkswirtschaft verliert weiter an Kraft, wobei die größten Folgen des Brexits schon durch sind. Die Gefahr, dass UK auseinanderbrechen könnte, sieht der Volkswirt indes nicht.

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FT: Herr Dr. Schmieding, wie fällt Ihre Bilanz nach einem Jahr aus, in dem der Brexit auch faktisch vollzogen wurde? Haben sich Ihre Befürchtungen bewahrheitet?
Dr. Holger Schmieding: „Ja, insgesamt haben sich die Befürchtungen bewahrheitet. Die britische Wirtschaft entwickelt sich weniger dynamisch als vor dem Brexit. Der eigentliche Knick kam aber bereits mit dem Brexit-Referendum im Juni 2016. Seit die Briten sich mit knapper Mehrheit für den Austritt aus der Europäischen Union entschieden haben, gilt das Land nicht mehr als guter Standort für Industrieunternehmen, um von dort aus ganz Europa zu beliefern. Deshalb bleiben vor allem die Investitionen der Unternehmen auf der Insel hinter dem bis dahin recht kräftigen Trend zurück. Der faktische Vollzug des Brexits Anfang 2022 hat angesichts der langen Vorlaufzeit diese Tendenz kaum noch verstärkt. Das große Chaos bei den Grenzkontrollen ist auch deshalb ausgeblieben, weil pandemiebedingt der Handel ohnehin eingeschränkt war und deshalb zunächst weniger kontrolliert werden musste, als es sonst der Fall gewesen wäre.“

Wie hart hat es die britische Volkswirtschaft getroffen?
„Die britische Wirtschaft erholt sich langsamer von der Pandemie als die meisten anderen Volkswirtschaften in Europa. Im dritten Quartal lag die Wirtschaftsleistung auf der Insel noch knapp unter dem Niveau, das sie Ende 2019 – also vor der Pandemie – erreicht hatte. Die Eurozone konnte dagegen ein Plus von 2,2 Prozent verbuchen. Die Brexit-Folgen haben vermutlich etwas dazu beigetragen, dass die britische Wirtschaft bereits im dritten Quartal 2022 im Zuge des Energiepreisschocks in eine Rezession gefallen ist, während dies in Deutschland und der Eurozone wohl erst ein Vierteljahr später, also im Schlussquartal 2022, der Fall sein dürfte.“

Was ist mit der Grundversorgung und mit der Preisentwicklung?
„Die Grundversorgung in Großbritannien ist trotz gelegentlicher Schlagzeilen über kleinere und kurze Engpässe hier und dort voll gewährleistet. Der Brexit treibt ein wenig die Preise. Einfuhren aus der EU kommen jetzt nur mit etwas höheren Kosten ins Land. Gerade viele kleinere Unternehmen machen sich angesichts der neuen Formalitäten nicht mehr die Mühe, Waren aus der EU zu beziehen. Aber die Inflation wird auf beiden Seiten des Ärmelkanals derzeit vor allem durch den Putin-Effekt getrieben, also den explosionsartigen Anstieg der Energie- und Nahrungsmittelpreise nach Russlands brutalem Überfall auf die Ukraine. Deshalb ist die Inflation in Großbritannien insgesamt kaum höher als auf dem Kontinent.“

„Das drängendste Problem ist und bleibt die Nordirland-Frage. Damit es keine Landgrenze zwischen dem britischen Nordirland und der zur EU gehörenden Republik Irland geben muss, haben die Briten sich im Brexit-Abkommen verpflichtet, Güter an der Seegrenze zwischen der britischen Hauptinsel und Nordirland zu kontrollieren. Bisher weigern sich die Briten, dieses voll umzusetzen. Sie drohen damit, das entsprechende Protokoll des Brexit-Abkommens einseitig außer Kraft zu setzen.“

Wie sieht der Arbeitsmarkt aus, wie wird es weitergehen?
„Die Beschäftigung ist bisher weiter gestiegen, Arbeitslosigkeit ist derzeit kein Problem. Da Unternehmen als Folge des Brexits weniger investieren, brauchen einige von ihnen sogar mehr Arbeitskräfte, als es sonst der Fall gewesen wäre. Die mangelnden Investitionen in modernere Maschinen zeigen sich darin, dass die Produktivität im Lande schwächelt. Es kommen zwar weniger Einwanderer aus der Europäischen Union ins Land, dafür hat der Zustrom von Menschen unter anderem aus Indien und Hongkong zugenommen. So gesehen ist der Arbeitsmarkt bisher nicht allzu sehr betroffen, auch wenn es in einigen Bereichen erhebliche Engpässe gibt, beispielsweise bei Handwerkern und im Gesundheitswesen.“

Welche drängenden Probleme hat UK im Zusammenhang mit dem Ausstieg aus dem Binnenmarkt noch nicht gelöst?
„Das drängendste Problem ist und bleibt die Nordirland-Frage. Damit es keine Landgrenze zwischen dem britischen Nordirland und der zur EU gehörenden Republik Irland geben muss, haben die Briten sich im Brexit-Abkommen verpflichtet, Güter an der Seegrenze zwischen der britischen Hauptinsel und Nordirland zu kontrollieren. Bisher weigern sich die Briten, dieses voll umzusetzen. Sie drohen damit, das entsprechende Protokoll des Brexit-Abkommens einseitig außer Kraft zu setzen. Das würde die EU sich nicht bieten lassen. Die Gefahr eines Handelskrieges zwischen Großbritannien und der weit größeren EU lastet auf der britischen Wirtschaft. Das ist ein wesentlicher Grund für die britische Investitionsschwäche. Unternehmen, die aus Großbritannien heraus den Kontinent mit Waren und Dienstleistungen beliefern möchten, befürchten, dass sie in einem Handelskrieg mit Strafzöllen rechnen müssten. Würde Großbritannien sich mit der EU auf eine pragmatische Lösung des Streites um nordirische Grenzkontrollen im Rahmen des Brexit-Abkommens einlassen, könnten die Investitionen in Großbritannien wieder etwas anziehen.“

Erst kam die Pandemie, dann der Ukrainekrieg mit all seinen Folgen. UK steckt in der Krise und die politische Lage ist nicht eben stabil. Der britische Premier Sunak hat harte Einschnitte auch im Sozialsystem angekündigt. Treibt das Land weiter auf den Abgrund zu?
„Nein. Das Land hat sich zwar selbst in eine schwierige Lage gebracht. Aber auf einen Abgrund treibt es nicht zu. Sollte die Labour-Opposition die Wahlen im Jahr 2024 gewinnen, würde sie wahrscheinlich eine insgesamt pragmatische Wirtschaftspolitik betreiben. Die angekündigten Einschnitte ins Sozialsystem werden vermutlich nicht voll umgesetzt.“

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Halten Sie einen Zerfall Großbritanniens für möglich? Schottland will raus, darf aber keine weitere Abstimmung durchführen. Auch Wales wäre lieber in der EU geblieben …
„Dass Schottland oder sogar Wales das Vereinigte Königreich verlassen, ist zwar denkbar, aber doch sehr unwahrscheinlich. Solange London nicht zustimmt, gibt es keinen guten Weg zu einem Referendum. Zudem sind Schottland und Wales so sehr auf Transfers aus dem britischen Staatshaushalt angewiesen, dass in einem Referendum vermutlich erneut eine knappe Mehrheit der Schotten gegen eine Unabhängigkeit stimmen würde. Auf Sicht von fünf bis zehn Jahren ist es aber denkbar, dass sich eine Mehrheit in Nordirland für eine Wiedervereinigung mit der Republik Irland im Süden entscheidet. Die zumeist britisch fühlenden Protestanten stellen nicht mehr die Mehrheit der nordirischen Bevölkerung.“

Wie kann Großbritannien sich aus der aktuellen Lage befreien und wie lange wird das dauern? Laut dem unabhängigen Office for Budget Responsibility schmälert der Brexit die Wirtschaftsleistung langfristig um 4 Prozent.
„Um seine Lage zu bessern, muss Großbritannien vor allem seine Beziehungen zur Europäischen Union normalisieren. Aber selbst dann wird der Brexit weiter wehtun. Wir erwarten, dass das britische Wirtschaftswachstum für lange Zeit pro Jahr um etwa 0,3 Prozentpunkte schwächer ausfallen wird, als es ohne den Brexit der Fall gewesen wäre, selbst wenn das nordirische Problem dereinst gelöst sein sollte.“

Wenn wir auf die EU schauen, welchen Schaden haben die Mitgliedsstaaten mit dem britischen Abschied hinnehmen müssen? Firmen, die nach UK exportieren, können ja nicht eben das Geschäft mal einstellen.
Für die große EU fällt der weniger dynamische Handel mit dem weit kleineren Großbritannien wesentlich weniger ins Gewicht als umgekehrt. Dennoch gibt es Folgen auch bei uns, unter anderem für deutsche Maschinenbauer. Vor allem wegen der britischen Investitionsschwäche ist der britische Anteil an der deutschen Warenausfuhr von 7,5 Prozent vor dem Brexit-Referendum auf jetzt nur noch 4,6 Prozent gefallen.“

„Um seine Lage zu bessern, muss Großbritannien vor allem seine Beziehungen zur Europäischen Union normalisieren. Aber selbst dann wird der Brexit weiter wehtun.“

Wie lange, schätzen Sie, wird es dauern, bis umgekehrt die EU, bis Deutschland wieder auf Normalbetrieb mit UK gehen und verlorene Volumina wieder aufholen kann?
„Ein Zurück zum alten Normalbetrieb vor dem Brexit-Referendum wird es nicht geben. Aber wenn Großbritannien einer pragmatischen Lösung für Nordirland zustimmt und sich zudem in wichtigen Bereichen nicht allzu weit von den Standards der EU für Waren und Dienstleistungen entfernt, kann der Handel künftig wieder etwas besser laufen, als es derzeit der Fall ist. Ob die Regierung Sunak dies erreichen kann, ist angesichts der vielen kompromisslosen EU-Gegner in den Reihen der konservativen Partei eine offene Frage. Sonst dürfte eine künftige Labour-Regierung vermutlich versuchen, das Verhältnis zur EU zu entspannen – und damit die Aussichten auch für deutsche Exporteure wieder etwas zu verbessern.“

Der Interviewpartner

Der BERENBERG-Chefvolkswirt Dr. Holger Schmieding gilt als einer der profiliertesten Banken-Volkswirte in Europa. Mehrfach wurde er für seine Vorhersagen ausgezeichnet, er war „Prognostiker des Jahres“ und dreimal bester Bankenvolkswirt in Europa bei den Extel Surveys. Bevor er 2010 zu BERENBERG kam, hatte er unter anderem am Kieler Institut für Weltwirtschaft und beim Internationalen Währungsfonds gearbeitet und war als Chefvolkswirt Europa für die Bank of America Merrill Lynch tätig.