Hurra, wir leben noch!

Kommentar

Autorin: Katja Vaders
Zunächst einmal muss ich mich bei Ihnen entschuldigen: Ich hatte an dieser Stelle im letzten Januar einen Kommentar geschrieben, in dem ich Sie zu mehr Optimismus aufgerufen und – aus heutiger Sicht vielleicht etwas naiv – prognostiziert hatte, dass es in 2022 definitiv aufwärtsgehen wird. Welch ein Irrtum …

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Zu meiner Verteidigung möchte ich vorbringen, dass außer diversen Geheimdiensten und ausgewiesenen Russlandexperten nun wirklich niemand damit gerechnet hat, dass es noch schlimmer kommen könnte: Am Morgen des 24. Februar 2022 griff Russland unter Wladimir Putin die Ukraine an und brachte damit nicht nur den Krieg zurück nach Europa. Er verursachte neben unfassbar viel Leid für die Menschen in der Ukraine eine Energiekrise, die ganz Europa fest im Griff hat und wie schon die Ölkrise im Jahr 1973 eine Rezession in allen westlichen Industrieländern auslöste.

Auch wenn sich die Inflationsrate in Deutschland im November mit plus 10 Prozent im Vergleich zum Oktober um 0,4 Prozent leicht abgeschwächt hat, sehen Experten noch lange keinen Anlass zur Hoffnung. Auch der hiesige Einzelhandel rechnet in diesem Jahr mit schrumpfenden Umsätzen. Ein Grund ist neben den exorbitanten Energiekosten vor allem die schlechte Stimmung der Verbraucher. Selbst wenn laut dem Handelsverband Deutschland das Weihnachtsgeschäft in der Woche vor dem dritten Advent noch einmal Fahrt aufgenommen hat, tut man sich mit einer positiven Zwischenbilanz weiterhin schwer und rechnet insgesamt mit einem Minus von 4 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Wirtschaftliche Probleme bestimmen auch den britischen Alltag nach dem Brexit. Das liegt vor allem an der schwindenden Attraktivität des Landes als Industriestandort und damit einhergehendem Investitionsmangel. Hinzu kommen natürlich auch für die Briten historisch hohe Energiepreise, eine Rezession sowie ein immer eingeschränkteres Handelsaufkommen mit den europäischen Nachbarn. Dynamisch geht es hingegen im House of Lords zu: Rishi Sunak ist aktuell der dritte Premierminister, seit 2019 Theresa May von ihrem Posten zurücktrat.

Es wackelt leider auch gehörig an der Spitze des EU-Parlaments. In der Wohnung von Eva Kaili, griechische Abgeordnete und eine der 14 Vize-Präsidentinnen beziehungsweise -Präsidenten des Europäischen Parlaments, fand die belgische Polizei gleich säckeweise Bargeld. Sie und ihr Lebensgefährte Francesco Giorgi, parlamentarischer Mitarbeiter der sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament, wurden daraufhin wegen des Verdachts der „bandenmäßigen Korruption und Geldwäsche“ verhaftet. Man geht davon aus, dass ein Golfstaat, vermutlich Katar, Kailis edler Spender war und mit seinen großzügigen Geldgeschenken versucht hat, die Entscheidungen des EU-Parlaments zu beeinflussen.

Schon wieder Katar also, die bis vor noch nicht allzu langer Zeit noch völlig unbedeutende Halbinsel am Persischen Golf, die in den letzten Wochen immer wieder die Berichterstattung der deutschen Presse beherrschte. Als Gastgeberland der wohl umstrittensten Fußballweltmeisterschaft aller Zeiten machte das Emirat eigentlich durchgängig mit Korruptionsvorwürfen und einer höchst zweifelhaften Haltung zum Thema Menschenrechte von sich reden. Was es bedeutet, dass der kleine Golfstaat nicht nur die FIFA, sondern offenbar auch das EU-Parlament für seine Zwecke manipulieren wollte, darüber muss man dringend im neuen Jahr diskutieren.

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Dass wir dieses als Bundesrepublik Deutschland und nicht als Monarchie beginnen werden, haben wir vor allem der sehr guten Arbeit des Verfassungsschutzes und der deutschen Polizei zu verdanken. Diese führte unlängst zu einer der größten Anti-Terror-Razzien in der Geschichte unseres Landes, bei der es zu 25 Festnahmen aus dem sogenannten Reichsbürger-Milieu kam. In dem gab es offenbar konkrete Pläne zum Sturz unserer Regierung und sogar einen echten König, dem man im neuen, alten Reichsdeutschland die Krone aufsetzen wollte.

Es ist ein Phänomen der 2020er-Jahre, dass sich die Realität zuweilen wie der Plot einer schlechten Netflix-Serie anfühlt. Zumindest der Hauptdarsteller der letzten beiden Staffeln, Corona, hatte in den aktuellen Folgen immer weniger Sendezeit. Stattdessen kämpft das Gesundheitssystem inzwischen mit dem RS-Virus, einer ungewöhnlich frühen Grippewelle und – Spoiler für die nächste Staffel – mit immer größeren Missständen aufgrund von ausgebranntem und frustriertem Pflegepersonal, das die medizinische Versorgung in unserem Land mittelfristig ernsthaft gefährden könnte. Und im Teaser zur nächsten Folge kündigt sich bereits der Klimawandel mit Überschwemmungen, Stürmen, Dürreperioden und sonstigen Wetterphänomenen an …

Moment mal!

Kann ich Sie wirklich so in die Weihnachtsfeiertage verabschieden? Ihnen statt Geschenken lediglich die finsteren Erinnerungen an ein wiederum ruiniertes Jahr 2022 unter den Tannenbaum legen? Oder sollte ich nicht lieber meinen eigenen Appell vom Januar beherzigen und ein bisschen Optimismus wagen? Es war nämlich nicht alles schlecht in diesem Jahr und einige Ereignisse geben Hoffnung auf eine besseres neues:

  • Die Deutschen entdeckten trotz Krisenzeiten ihre Hilfsbereitschaft wieder und nahmen viele Geflüchtete aus der Ukraine teilweise sogar bei sich zu Hause auf oder halfen mit Geld- und Sachspenden sowie ihrem ehrenamtlichen Einsatz.
  • Seit dem Tod der iranischen Kurdin Jina Mahsa Amini gibt es eine beispiellose Protestwelle im Iran. Tausende von vor allem jungen Menschen begehren gegen das repressive Regime auf und zeigen Solidarität mit den Frauen und anderen verfolgten Bürgerinnen und Bürgern des Landes. Es besteht realistische Hoffnung, dass diese mutigen Proteste endlich den politischen Wandel im Iran bringen könnten.
  • Durch die Energiekrise scheint endlich eine ökologische Transformation möglich: Erneuerbare Energien geben uns Unabhängigkeit, nicht nur von despotischen Staaten wie Russland, Saudi-Arabien oder Katar, sondern vor allem von der Ausbeutung der Ressourcen unseres Planeten. Zudem sind sie sauber – also komplett CO2-neutral. Hoffen wir, dass dieses Bewusstsein sich bis zum Ende der Energiekrise vor allem in den Köpfen politischer und industrieller Entscheidungsträger manifestiert hat.
  • Lula da Silva hat Jair Bolsonaro als brasilianischer Präsident abgelöst! Dies gibt Hoffnung gleich auf mehreren Ebenen: vor allem für die indigenen Völker des Landes und den Schutz des Regenwaldes, der grünen Lunge unseres Planeten.
  • Ein US-Forscherteam entwickelte eine Anti-Krebs-Pille gegen diverse Krebsarten und konnte außerdem herausfinden, dass die Verwendung mutierter Zellen das Wachstum von Krebszellen stoppen und die Bildung von Metastasen verhindern kann. Ein Patient wurde bereits mit dem neuen Medikament behandelt und zeigte positive Ergebnisse.
  • Auch wenn es noch keine Entwarnung gibt: Dem Great Barrier Reef in Australien geht es besser! Forscherinnen und Forscher konnten das stärkste Wachstum von Korallen seit über 30 Jahren beobachten.

In diesem Sinne: Bleiben Sie positiv, haben Sie schöne Feiertage und kommen Sie gesund in ein erfolgreiches Jahr 2023!