Eigentlich wollte ich Sie gerne durch die neue Ausgabe von FT führen, aber …
„Wir wollen mehr Demokratie wagen“, sagte der große Willy Brandt im Herbst 1969. Heute, mehr als 50 Jahre später, hat dieser Satz nichts von seiner Bedeutung verloren. Mehr noch: Heute müssen wir Demokratie schützen!
Dass Rechtsextreme und Sympathisanten mit Allmachtsfantasien vom großen Umsturz träumen, ist nicht neu, auch nicht, dass sie sich international verbünden. Aber dass dieser braune Müll inzwischen bis in die Mitte der Gesellschaft wabert, schockiert mich zutiefst. Da darf eine gesichert rechtsextreme Partei beziehungsweise dürfen deren Landesverbände in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt ungehindert ihre Propaganda verbreiten und zu Wahlen antreten. Die AfD liegt in Ostdeutschland weit vor allen anderen Parteien. Björn Höcke, AfD-Fraktionsvorsitzender in Thüringen, etwa betreibt eindeutig faschistische Hetze und träumt davon, nicht nur Menschen mit Migrationshintergrund zu deportieren, sondern auch die Germanen, die zu schwach sind, sich gegen die „Afrikanisierung“ und „Islamisierung“ zu wehren. Nur, ist es im Westen wirklich besser? AfD-Chefin Alice Weidel fabuliert über Kopftuchmädchen und alimentierte Messermänner. Solingen liegt bekanntlich nicht in den neuen Bundesländern. Ein Verfassungsschützer hat selbst braune Fantasien und will jetzt mit einer eigenen Partei die Dinge ins rechte Lot bringen. Die NSU konnte ungehindert quer durch die Republik morden und der rechte Mob macht Jagd auf Menschen. Es sind Schlaglichter, aber es passiert – viel zu wenig.
Mal ehrlich, glauben Sie, dass in Afrika auch nur ein Mensch, der ums Überleben kämpft, überlegt, morgen mal eben ins Schlauchboot zu steigen, um sich hier die Zähne sanieren zu lassen? Auf Kosten der Deutschen, versteht sich. Drastisch formuliert. Aber ernsthaft …? Wissen Sie, wie viele der inzwischen über 3 Millionen Flüchtenden (Stand September 2023) überhaupt abgeschoben werden können? Rund 56.000 Menschen sind es. Der Rest hat Asyl- und Bleiberecht beziehungsweise wird geduldet. Wir sprechen also von noch nicht einmal 2 Prozent aller Betroffenen. Doch auch das politische Establishment tut so, als ließen sich mit der schnellen, harten Abschiebung viele Probleme dieses Landes lösen. Für mich ist ganz klar, dass sich die Koordinaten des öffentlichen Diskurses verschieben. Wir sprechen über Migration, über das Ruanda-Modell statt über die Gestaltung unseres Landes, wie und in welchem Zustand wir unseren Kindern die Welt überlassen wollen. Wir sprechen nicht über Chancen, sondern über die Wahrung des Besitzstandes, für den auch harte Protestgeschütze aufgefahren werden. Wir greifen Politiker persönlich an und schrecken auch vor Mord nicht zurück. Die rechtsextremistische Szene bestimmt inzwischen die öffentliche Debatte und treibt die politischen Parteien vor sich her. Sie kapert auch die Sprache. Beispiel: illegale Migration. Die gibt es nicht, im Gegensatz zu irregulärer Migration. Für mich gehört auch der Begriff des Wirtschaftsflüchtlings dazu. Ist ein Mensch gemeint, der versucht, der Perspektivlosigkeit zu entfliehen, oder einer, der wegen krimineller Steuerhinterziehung auf der Flucht ist?
Und jetzt das: Nach den Umsturzfantasien von geschichtsvergessenen Reichsbürgern deckt das Recherchenetzwerk CORRECTIV auf, dass sich rechtsradikale Kräfte, Vertreter der AfD, Großbürger und potente Geldgeber heimlich treffen, um einen Masterplan zur Remigration (man könnte auch einfach Deportation sagen) auszuarbeiten. Auch mindestens ein Mitglied der CDU war dabei und dieses Treffen war nicht das erste. Wie lange wollen wir noch tatenlos zusehen? Das sind keine Aktivitäten von harmlosen Spinnern oder Einzeltätern. Das sind gut organisierte, intelligent aufgebaute, vernetzte Strukturen mit den bekannten Elementen, die auch das Dritte Reich möglich machten: Ideologen, die auf das große Ziel hinarbeiten, rhetorisch gewiefte Verführer, die das Wort als Waffe einzusetzen wissen, Geldgeber, die alles finanzieren, schweigende Unterstützer, die für trügerische Akzeptanz sorgen, und Gewalttäter, die Tatsachen schaffen.
Schlimmer noch ist: Der Rechtsruck in seinen unterschiedlichen Ausprägungen hat längst die Welt erfasst. Trump und die USA, Viktor Orbán und Ungarn, Marine Le Pen und Frankreich, wo die unsägliche Mär des gezielten Bevölkerungsaustausches und der angeblichen Auslöschung europäischen Lebens ihren Ursprung nahm. PiS und Polen, Putin und Russland. Die Liste lässt sich zu leicht weiter fortsetzen.
Nicht Deutschland ist in Gefahr, sondern die Demokratie. Stehen wir auf und schützen sie!
Ihr
Markus Oess