Ich wollt’, ich wär – nicht stationär …

Systemwettbewerb

©pixabay

Autor: Markus Oess
Wie die Corona-Krise bewältigt werden kann, darüber herrscht nun keine Einigkeit. Wohl aber darüber, dass bestehende Trends verstärkt wurden. Zwar schätzen Konsumenten das Shopping in der Innenstadt und vertrauen bei der Suche nach den neuesten Modehits dem Laden ihres Vertrauens, aber das ändert nichts am Online-Boom. Sicher, leiden die Konjunktur und die Kauflaune, leidet der Handel on- und offline. Aber schränkt der Kampf gegen die Pandemie das öffentliche Leben und Kontakte ein, leidet der stationäre Handel zwangsläufig mehr.  

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Die Zeiten ändern sich – wer denkt noch an GENERAL MOTORS, Ford und Exxon, wenn die Rede auf das größte Unternehmen der Welt kommt? Und während die drei erstgenannten Firmen in der Fortune-500-Liste im Jahr 1990 noch ganz oben standen, sind dies im Jahr 2020 der analoge US-Händler Walmart und zwei chinesische Firmen, SINOPEC (Öl und Gas) und STATE GRID (Versorger). Der viel beschworene Internet-Riese amazon schafft es mit einem Jahresumsatz von 280,5 Milliarden Euro auf Rang 9. Die Rede ist wohlgemerkt vom größten, nicht vom wertvollsten Unternehmen und auch nicht von dem mit den größten Wachstumsaussichten. Und es besteht auch kaum Zweifel, dass die deutschen Varianten wie die otto group, die übrigens in den Anfängen des US-Giganten eine mögliche Beteiligung an amazon ausschlug, oder zalando in der Corona-Krise und den internationalen Lockdowns gewissermaßen von ihrem Logenplatz zuschauen, wie sich die stationäre Konkurrenz in den Innenstädten um die verbliebenen Brotkrümel prügelt, solange die Läden öffnen dürfen.

„… zuversichtlich, dass wir bei anhaltend positivem Wachstumstrend das Geschäftsjahr auf Vorjahresniveau oder sogar leicht darüber abschließen können.“  Dr. Richard Gottwald, Vorsitzender der Geschäftsführung bonprix

Zugegeben, das ist nun überzogen. Aber ein Blick auf die Halbjahresbilanz von der OTTO-Tochter sollte schon zum Nachdenken bewegen. Auch unter den schwierigen Bedingungen der vergangenen Monate insbesondere im Textilsektor liege das erste Geschäftshalbjahr mit einem Umsatzrückgang von 3,6 Prozent bei abgesicherter positiver Rendite nur leicht unter Vorjahr, teilt die OTTO-Tochter bonprix mit. Mehr noch: „Ich bin aber zuversichtlich, dass wir bei anhaltend positivem Wachstumstrend das Geschäftsjahr auf Vorjahresniveau oder sogar leicht darüber abschließen können“, lässt Dr. Richard Gottwald, Vorsitzender der Geschäftsführung, bei der Bekanntgabe der Halbjahreszahlen wissen. Und noch ein Beispiel aus der OTTO-Welt: ABOUT YOU, dessen Umsätze nicht in der Konzernbilanz der otto group enthalten sind, wuchs auch in den ersten sechs Monaten des Geschäftsjahres und steigerte die Umsätze um rund 65 Prozent. Auf Jahressicht wird die Umsatzmarke von 1 Milliarde Euro angepeilt. Während andernorts bei Rückgängen von 3,6 Prozent wohl die Sektkorken knallen würden, spricht man in Hamburgs Konzernzentrale von einer „belastenden Nachfrageschwäche“. Es kommt auf den Betrachter an. Der Kölner Handelsverband BTE hat das Geschäftsjahr 2020 für die überwiegende Mehrheit seiner Mitglieder schon abgeschrieben. Er fürchtet eine Pleitewelle über den deutschen Modehandel hineinbrechen und fordert massive staatliche Stützen, um einen Dammbruch zu verhindern. Aber hängt tatsächlich alles nur an dem System?

Zwei Dinge tragen den Wettbewerbsvorteil der Hamburger otto group: Viele Branchen schultern viel und Online punktet nach wie vor: „Die Corona-Pandemie ist ein Katalysator für fundamentale Entwicklungen“, sagt Alexander Birken, Vorstandsvorsitzender der otto group, bei der Bekanntgabe der Halbjahreszahlen. „Der Online-Handel wächst seit vielen Jahren deutlich schneller als der Stationärhandel. Durch die Corona-Pandemie hat sich dieser Wandel massiv beschleunigt, sodass viele Kundinnen und Kunden nun viel häufiger online einkaufen.“ Nach einem Umsatzeinbruch durch den Shutdown im März haben die Verkäufe deutlich angezogen. Treiber war der E-Commerce. Das war noch vor dem zweiten Lockdown light, der seit Anfang dieses Monats gilt. Aber der kam mit Ansage und vermutlich dürfte das im Trend wenig ändern. „Die OTTO-Einzelgesellschaft konnte die Zahl der Neukundinnen und -kunden im laufenden Geschäftsjahr um mehr als eine Million steigern – dazu gehören auch ältere, aber ganz generell Menschen aller geschäftsfähigen Altersklassen. Mit mehr als 500 neuen Partnern bieten wir auf unserer Plattform otto.de inzwischen mehr als drei Millionen Produkte von über 6.800 Marken an. Dementsprechend ist das Angebot, auch im Fashion-Bereich, bereits sehr vielfältig und auf die Bedarfe unserer Kundschaft ausgelegt. Mit dem Ausbau der Plattform wird das Sortiment mittelfristig nochmals deutlich wachsen“, sagt eine Sprecherin gegenüber FT.

Kämpfen der stationäre Handel und die Modebranche in der Corona-Krise also schon auf verlorenem Posten oder zeichnen die Interessenvertreter nicht auch ein düsteres Bild, um mehr Aufmerksamkeit im Kampf um Unterstützung zu erhalten? Nicht allen ergeht es in der Krise schlecht. „Der stationäre Handel als solcher kann nicht mit der Modebranche in einem Zug genannt werden, da wichtige Sektoren des stationären Handels wie der Lebensmitteleinzelhandel überhaupt nicht verloren, sondern sogar gewonnen haben. Die stationäre Modebranche hingegen hat überproportional verloren“, sagt der Handelsexperte Prof. Dr. Dr. Thomas Roeb von der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. „Erstens ist das Marktvolumen durch Corona rückläufig, weil die gesellschaftlichen Anlässe, die zum Modekauf führen, weniger geworden sind, und zweitens wird ein größerer Teil des geschrumpften Marktes online gekauft, weil die Kunden sich im stationären Handel nicht mehr sicher fühlen. Der zweite Aspekt ist von besonderer Bedeutung. Vom ersten Aspekt darf man nämlich erhoffen, dass er mit der erfolgreichen Bekämpfung von Corona an Bedeutung verliert, vielleicht sogar gänzlich verschwindet. Vom zweiten Aspekt hingegen muss man annehmen, dass er den längerfristigen Trend hin zum Online-Kauf verstärkt und damit auch nach Corona weitgehend weiterwirkt.“

„Corona ist ein Problem des Distributionskanals, nicht der Marke.” Prof. Dr. Dr. Thomas Roeb

Bei der Bewertung von Unternehmen, die es im Augenblick richtig machen, hält sich Roeb zurück: „Nur wenn man mit einem Jeep auch noch gut vorankommt, wenn irgendwo ein Erdrutsch die Fahrbahn verschüttet, ist der Jeep auch für die Straßen ohne Erdrutsch das optimale Fahrzeug“, sagt er. Dabei sieht er die Branche in der Corona-Krise mit Problemen konfrontiert, die sich nicht einfach mit der nächsten Kollektion beiseitewischen ließen: „Corona ist ein Problem des Distributionskanals, nicht der Marke. Marken, deren Erfolg zu stark vom stationären Handel abhängt und die deshalb jetzt Probleme haben, hatten schon vorher Probleme, weil der stationäre Handel im Bereich Mode schon seit Langem Boden verliert. Ansonsten gilt analog dasselbe wie für die Händler. Bei konzeptionellen Anpassungen an die Corona-Zeiten sollte man sicher sein, dass diese nicht den Weg in die Nach-Corona-Zeiten behindern.“ Und der Handelsexperte äußert sich nicht ganz so optimistisch zu den mittelfristigen Zukunftsaussichten der stationären Modehändler: „Chancen, gestärkt aus der Krise hervorzugehen, sehe ich nur für den Online-Handel. Der wuchs allerdings auch schon vorher. Bei den stationären Händlern kann eine solche Krise niemanden wirklich stärken.“ Das heißt nun nicht, dass die analoge Handelswelt zugrunde geht. Sie muss sich nur neu er- oder wenigstens wiederfinden und die Stärken ausspielen, die auch eine reelle Erfolgschance bieten.

„Wer zu viel defendieren will …“

Nicht auf allen Hochzeiten tanzen, sagt Prof. Dr. Dr. Thomas Roeb im FT-Interview. Digital und analog gleich gut stemmen zu wollen, sei ein schwieriger Balanceakt und ganz sicher keine Erfolgsgarantie.

FT: Herr Professor Roeb, Sie lebten auch in London und haben den alltäglichen Vergleich. Wo kaufen Sie lieber ein, in Deutschland oder Großbritannien?

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Leider ist es den deutschen Modehändlern allenfalls gelungen, auf nationaler Ebene erfolgreich zu sein.“ Prof.Dr.Dr. Thomas Roeb

Prof. Dr. Dr. Thomas Roeb: „Großbritannien und Deutschland kann man nicht pauschal vergleichen. In Großbritannien macht es einen enormen Unterschied, ob ich von London spreche oder vom Rest des Landes, selbst Großstädten wie Liverpool. In Deutschland hingegen kann ich auch in München im Prinzip alles das bekommen, was auch in Berlin angeboten wird. Ich wohnte nun zwar in London, aber persönlich kaufe ich lieber in Deutschland ein. Ein banaler Grund: Deutschland ist billiger. Darüber hinaus gefällt mir die deutsche Mode besser. Das ist aber ein sehr subjektiver Grund. Meine Studierenden shopp(t)en sehr gerne in ausländischen Städten, weil sie das Angebot dort anders, aufregender finden. So finden sie, dass H&M in Rom andere Waren anbietet als in London. Das Internet nivelliert solche Unterschiede aber … aus meiner Sicht leider, denn ein Shopping-Trip in eine ausländische Großstadt bringt einen Menschen doch mit mehr Dingen in Berührung als nur der Ware. Es ist ein Erlebnis, das der nackte Zweckkauf im Internet nicht bieten kann.“ 

Kommt der Handel in Großbritannien besser durch die Corona-Krise? Es gab ja eine Zeit, in der britische Händler schon beispielgebend waren für Erfolgsmodelle.
„Da die Corona-Krise in Großbritannien viel stärker wirkt als in Deutschland, leidet auch der Handel mehr. Diese übergreifende Sicht auf die aktuelle Situation sagt aber – noch – nichts über die Kreativität der Modeszene aus, die nach Corona sicher wieder aufblühen würde, wenn der Brexit sich nicht als Hemmnis erweisen sollte. Davon abgesehen: Wenn man erfolgreiche Handelskonzepte sucht, wäre ein Fokus auf Großbritannien ein großer Fehler. H&M kommt aus Schweden, INDITEX aus Spanien, UNIQLO aus Japan, PRIMARK aus Irland et cetera.“ 

Wie ordnen Sie den deutschen (Mode-)Handel diesbezüglich international ein?
„Leider ist es den deutschen Modehändlern allenfalls gelungen, auf nationaler Ebene erfolgreich zu sein, wenn auch mit H&M, INDITEX und so weiter die großen Impulsgeber zumindest in Fast Fashion nicht deutsche Unternehmen sind. International wirklich erfolgreiche Unternehmen wie zum Beispiel im LEH ALDI und LiDL fehlen jedoch.“

Viele sprechen von Omnichannelling als Zukunftsmodell im Handel. Was ist dadran? Müssen stationäre Händler auch digital verkaufen (abseits davon natürlich, dass das Online-Geschäft im Lockdown im Frühjahr weiterging)?
„Wer zu viel defendieren will, der defendieret gar nichts.‘ Dieser Satz stammt von Friedrich dem Großen und er scheint mir auf die Omnichannel-Debatte zu passen. Möglicherweise ist es nötig, überall präsent zu sein. Aber die Fakten sehen anders aus. Die Marktführer im stationären Bereich sind alle relativ schwach online, die Marktführer im Online-Geschäft hingegen unbedeutend im stationären Geschäft. Vielleicht muss das nicht so sein, ist aber aktuell so und gibt mir insofern zu denken, als ich befürchte, dass der Versuch, im jeweils fremden Distributionskanal Fuß zu fassen, zu einer Vernachlässigung des Stammkanals führen kann. Warnendes Beispiel scheint mir ESPRIT zu sein, ein relevanter Spieler stationär und online, den diese Tatsache nicht vor schweren wirtschaftlichen Schwierigkeiten bewahrt hat.“

Gibt es eine Art Top-Five-Liste, die Sie der Branche in der Krise mit auf den Weg geben können?
„Erstens: nicht überreagieren! Corona ist bald weitgehend vorbei. Zweitens: Corona-Maßnahmen dürfen nicht die Rückkehr zur Normalität behindern (zum Beispiel Preisaktionen so gestalten, dass der Ausnahmecharakter deutlich wird und nicht das Preisimage des Unternehmens gefährdet wird). Drittens: Kundenkontakt halten und intensivieren durch Ansprache und kleinere Aktionen in der Filiale. Viertens: Online als Vertriebskanal strategisch stärken durch Kooperationen, um mit einer eigenen Plattformstrategie kritische Masse aufzubauen. Und fünftens: jetzt schon über die Weiterentwicklung des stationären Kerngeschäfts nachdenken und in den Startlöchern stehen, wenn es wieder losgeht.“

Der Interviewpartner:
Thomas Roeb studierte nach dem Abitur Betriebswirtschaftslehre in Bayreuth und Trier. Danach arbeitete er als Bereichsleiter Verkauf bei ALDI SÜD. 1993 promovierte er an der Universität Siegen. Anschließend arbeitete Roeb bei der Unternehmensberatung Roland Berger. 1998 wurde er Professor für Handelsbetriebslehre an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg und lehrt dort zu den Themen Marketing und Logistik von Handels- und Konsumgüterunternehmen. Nebenberuflich berät er verschiedene Unternehmen aus Handel und Industrie.