Bullis, Go-Gos und die Grenzen des Wachstums

Auf ein Kaltgetränk mit …

„Ich bin Generation Bulli!“ Gerd Müller-Thomkins ©Deutsches Mode Institut

Autor: Andreas Grüter
Herzlich willkommen zur Juli-Edition von „Auf ein Kaltgetränk mit …“, in deren Rahmen wir uns mit Gerd Müller-Thomkins, seines Zeichens Geschäftsführer des Deutschen Mode Instituts, getroffen haben. Zum Kaffee gab es stilles Wasser und ein langes Gespräch über Mode als Kulturgut, das „Frei“ in Freiwasserschwimmen und die Fashion-Metamorphose der Jogginghose. Read on …

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FASHION TODAY: Heute eröffnen wir die ‚Auf ein Kaltgetränk …‘-Sommerbar 2022. Was darf ich Ihnen anbieten?
„Ein Glas Wasser neben dem Kaffee, um den Tag und unser Gespräch nüchtern zu beginnen.“

Worauf wollen wir unser Glas erheben?
„Auf die Zeitenwende. Eine Zeitenwende, die auch und besonders unsere Branche betrifft und der Mode gleichzeitig Grenzen weist wie auch neue Horizonte in Aussicht stellt.“

Sie haben Ihr Leben der Modebranche gewidmet. Hatten Sie als 18-Jähriger vielleicht ganz andere Pläne?
„Also, wem ich mein Leben gewidmet habe, darüber denke ich gerne später einmal nach. Aber Tatsache ist, dass ich schon bald 40 Jahre über, in, für und mit der Modebranche arbeite. Zunächst noch im Studium als Model, währenddessen und danach als Journalist und Autor mit Schwerpunktthemen bei Gesellschaftswissenschaften und Kultur und seit 1996 leite ich das heutige DMI.“

Drei Dinge, die man von Ihnen nicht erwarten würde …
„Ich weiß nicht, was man von mir nicht erwarten würde. Da lasse ich Ihrer Fantasie freien Lauf. Was erwartet wird und wofür man gehalten wird, liegt doch immer im Auge des Betrachters, auch wenn wir uns Mühe geben, ihm ein bestimmtes Bild von uns zu vermitteln. Auch deshalb machen wir Mode. Ich schlage vor, Sie beantworten Ihre Frage am Ende des Gesprächs selbst.“

Hiervon könnte ich mich nie trennen …
„Von meiner Familie. Dem gefütterten, sehr schön gemusterten Strickblouson meines Vaters aus den frühen 1950ern, den er auf Bildern trägt, als er meine Mutter kennenlernte. Vielleicht meine Plattensammlung aus der Jugend, weil sie Visionen auf Vinyl festhält und sie damit wieder greifbar macht. Ansonsten könnte ich fast alles loslassen, um Neues anzupacken.“

Gerd Müller-Thomkins geht auf Reisen. Wohin verschlägt es Sie und wo wird übernachtet?
„Überall dorthin, wo der Horizont über dem Wasser oder den Bergen zu sehen ist. Ich bin Generation Bulli! Wir sind nur so zum Spaß in einem alten VW Bus am Wochenende nach Nizza gefahren, um auf der Promenade des Anglais einen Kaffee zu trinken. Auch wenn wir den damals kaum bezahlen konnten. Bulli war und ist das Versprechen von Freiheit. Heute liebe ich die unangemeldete Unabhängigkeit im Ankommen und Gehen, im Unterwegssein, auch als Kontrast zu durchdesignten oder gar seelenlosen Hotelzimmern.“

„Bulli war und ist das Versprechen von Freiheit.“

Was möchten Sie unbedingt mal ausprobieren, haben es sich aber bislang noch nicht getraut?
„Wenn es nur um das Trauen gehen würde – man muss ja erst einmal dazu kommen. Frei und thematisch ungebunden zu schreiben, ist mein Wunsch. Die Leidenschaft zum Freiwasserschwimmen teilen wir beide, wie Sie mir vorhin erzählt haben. Ich würde auch gerne wieder segeln wie in meiner Jugend. Den Atlantik würde ich gerne überqueren, in einem Katamaran oder einem Lastensegler, wie es sie heute vereinzelt wieder gibt. Auf den Himalaya hingegen muss ich definitiv nicht.“

Ihre Guilty Pleasures im Bereich Musik, Mode und Literatur?
„Die Musen wie in der Mode rezipiere und konsumiere ich sehr eklektisch. Als 13-Jähriger habe ich die großen Swing-Orchester über Kopfhörer gehört, natürlich auch Beatles und Stones, Woodstock war eine Offenbarung. Heute höre ich viel Jazz, aber auch Funk & Soul, den Hip-Hop liebe ich für seine Lyriks. Bei der Literatur fehlt mir häufig die Muße für die dicken Bücher. Meistens lese ich mehrere Bücher gleichzeitig, lege sie beiseite und lese sie bei Gelegenheit weiter oder auch nicht zu Ende, wenn die Inhalte zu selbstverliebt oder vorhersehbar sind. Ich würde gerne mal wieder ausgesuchte Klassiker lesen, aber es kommt ja auch so viel Neues. Allein schon deswegen haben wir keinen Fernseher. Dafür höre ich ständig Radio, zumeist den Deutschlandfunk, denn dort bin ich journalistisch groß geworden. In der Mode bin ich entweder ein sportiver, italienischer Klassiker oder ein proletarischer Purist, der einfache, gerade Schnitte mit derben Materialien von Tweed bis Leinen liebt. Die Stilistik geht von BOGLIOLI über die PIKE BROTHERS bis zu hannes roether.“

Die Jogginghose – absolutes No-Go oder heimlicher Klassiker mit Reputationsproblemen?
„Natürlich ein Klassiker mit allen modischen Metamorphosen. Man sollte immer nur wissen, auf welchem Parkett man sich gerade befindet und ob man sich bewusst über Konventionen hinwegsetzt. Aus No-Gos werden Go-Gos! Wir wissen doch, wie Mode funktioniert und dass man ihr nicht entkommen kann – wie der, Gott hab ihn selig, große Karl gesagt hat.“

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Sammeln ist super oder weniger ist mehr?
„Mein Kleiderschrank ist zweieinhalb Meter breit und zweieinhalb Meter hoch. Was dort nicht hineinpasst, ist sowieso zu viel. Die meisten Stücke darin waren es mir wert und sind zwischen ein und dreißig Jahre alt. Eigentlich wissen wir doch längst, dass unsere Zukunft im Weniger liegt, zugunsten der Achtung von Ressourcen, menschlicher Arbeit und dem Gleichgewicht des Klimas. Weniger wird auch mehr Wertschätzung für verantwortliche Produkte bedeuten. Weniger zu konsumieren und zu sammeln, muss sich also nicht ausschließen, gerade wenn es um ein zeitloseres Design, nachhaltige Materialien und eine gute Verarbeitung geht – um all das, was wir aufgegeben haben, als es darum ging, immer mehr, immer schneller und immer billiger zu produzieren. Carl Tillessen hat die sich selbst erfüllende Prophezeiung von den Grenzen des Wachstums in seinem Buch ‚Konsum – Warum wir kaufen, was wir nicht brauchen‘ dargestellt. Der aktuelle DMI Fashion Day 23/24 wie auch das DMI Trendbook zur gleichen Saison tragen den Titel ‚Should we speed up or should we slow down?‘. Das letzte DMI Re’aD Summit zur Digitalisierung der Lieferketten nannten wir ‚digital x less‘. Wir arbeiten also sowohl aus der Designperspektive wie auch im Bereich der Digitalisierung der Produktentwicklung an dem Thema Zeitenwende in den Lifestylebranchen. Unser Geschäftsmodell wird zu Recht hinterfragt. Wir sitzen auf der Anklagebank nachwachsender Generationen, auch wegen der schlechten Erziehung unserer Kinder zu Fast Fashionistas. Ein sehr komplexes Thema!“

Bestandsaufnahme Köln. Ihre drei Lieblingsorte …
„Morgens um sieben, wenn die Welt noch in Ordnung ist, laufe ich um den Aachener Weiher, danach gehe ich gerne auf den Apostelnmarkt und mittags zum Businesslunch ins Belgische Viertel. Hier wohne ich auch, weil man sich wirklich kosmopolitisch fühlen kann. Eine der wenigen nahezu unzerstörten Ecken meiner Heimatstadt.“

Das hätte ich mir vor 20 Jahren auch nicht so vorgestellt 
„So lange dem DMI vorzustehen. Aber es waren Zeiten des kontinuierlichen Umbruchs, da haut man nicht ab. Das Wort Krise wurde in unserer Branche dermaßen inflationär verwendet, dass man nun besser von Zeitenwende sprechen sollte. Globalisierung, Vertikalisierung, Digitalisierung – wir werden noch Jahre nachsitzen müssen, um unsere Hausaufgaben zu machen. In der Schule ging mir das auch schon so …“

„Das Wort Krise wurde in unserer Branche dermaßen inflationär verwendet, dass man nun besser von Zeitenwende sprechen sollte. Globalisierung, Vertikalisierung, Digitalisierung – wir werden noch Jahre nachsitzen müssen, um unsere Hausaufgaben zu machen.“

Das kann ich mir für die Zeit in 20 Jahren ganz gut vorstellen …
„Oh, ich bin ein kritischer Optimist. ‚Alles wird gut‘ war auch immer mein Spruch. Vielleicht hat das damit zu tun, dass ich als Kind den Rhein schon aus Hunderten von Metern Entfernung riechen konnte, während über dem Ruhrpott wie dem Rheinland der Smog festhing und die Städte noch sichtbar zerstört waren. Das ist alles vorbei. Die Menschen werden lernen, sich besinnen und verändern. Das Schlechte und Böse kommt immer wieder, aber es bleibt nicht auf Dauer. Konkret: Wir als Modebranche werden eine ähnliche Entwicklung wie die Lebensmittelbranche erleben. Hin zu mehr Bewusstsein und Nachhaltigkeit in Konsum und Produktion. Die Digitalisierung der Supply Chain ist ein wesentlicher Schlüssel dazu. Während also der Strom offshore erzeugt wird, werden wir wieder deutlich mehr nearshore produzieren. Wie nach dem Krieg entscheidet der Neuaufbau unserer Industrie heute nach digital maximal möglichen Maßstäben über die Selbstheilungs- und die Innovationskraft unserer Branche im globalen Wettbewerb. Das Digitale und das Analoge werden ihr Verhältnis zueinander gefunden haben. Gleichzeitig wird das Handwerk wieder an Wertschätzung gewinnen. Dafür sorgen heute schon der Fachkräftemangel wie auch die Sehnsucht nach Identität, Authentizität und Nachhaltigkeit.“

Darüber kann ich lachen …
„Ich bin Rheinländer! Wir können über vieles und am besten über uns selbst lachen, aber dafür muss man nicht zu einer Karnevalssitzung gehen. Den englischen Humor liebe ich wegen seines Sarkasmus, den jüdischen Humor wegen seiner philosophischen Intellektualität.“

Das macht mich traurig …
„Je vernetzter die Menschen sind, umso einsamer scheinen sie zu werden. In den sogenannten sozialen Medien hat der Egokult den Griffel in die Hand genommen. Nach ganz viel Kommunikation kommt Isolation. Es fehlen die Begrüßung, die Anrede, das Ausredenlassen und die respektvolle Verabschiedung. Wir verlieren unsere Gesprächskultur im Kommunikationszeitalter.“

Zu diesem Thema hätte ich einiges zu sagen, wurde bislang aber nicht gefragt …
„Warum auch die kommerzielle Messe etwas ‚Heiliges‘ ist; was wir uns nicht nehmen lassen, sondern bewusst miteinander zelebrieren sollten.“

Anmerkung des Autors zur Antwort auf Frage vier: Die Liebe zum Freiwasserschwimmen, vor allem über längere Strecken, fand ich überraschend. Noch mehr überraschte mich allerdings Gerd Müller-Thomkins‘ Faible für Hip-Hop. Aber hier greift wohl einmal mehr die gute alte „Poetry & Jazz“-Formel, die, angestoßen von Pionieren wie Gil Scott-Heron und den Watts Prophets über Jazzmatazz und A Tribe Called Quest bis hin zu Fleur Earth, Retrogott und den abstrakten Freejazz-Beats von Moor Mother, das Genre nach wie vor (und zum Glück) prägt.