50 Shades of Red

Was uns lieb und teuer ist …

Nicht Marilyn Monroe oder Madonna, sondern Robert Smith, Sänger der britischen Band The Cure, inspirierte mich dazu, das erste Mal zu einem roten Lippenstift zu greifen. ©Herbert Druschke

Autorin: Katja Vaders
Es war nicht einfach, eine Entscheidung zu treffen, welches Teil aus meinem Kleiderschrank mir so lieb und teuer ist, dass es die Hauptrolle in diesem Text verdient. Ich gebe zu, ein ziemlicher Fashion Junkie zu sein, auf einen in vielen Jahren gewachsenen und sehr umfangreichen Fundus an Textilien zugreifen zu können und mich daher sehr ungern längerfristig auf einen sogenannten Signature Look festzulegen. Die Mode gibt uns schließlich die wunderbare Möglichkeit, uns mindestens jede Saison neu zu erfinden, und von dieser mache ich nur allzu gerne Gebrauch.

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Ich zog daher eine gute Freundin zurate und fragte sie, welches Kleidungsstück sie untrennbar mit mir in Verbindung brächte. Ihre Antwort deckte sich mit meinem ersten Impuls, den ich allerdings zunächst verworfen hatte, weil es sich zwar um ein Accessoire handelt, das aber nicht in einem Kleiderschrank zu finden ist. Es gehört dennoch untrüglich zu mir und begleitet mich – mit kurzer Unterbrechung –, seit ich in die Pubertät eingetreten bin: roter Lippenstift.

Es waren übrigens nicht die Lippen von Marilyn Monroe oder Madonna, die mich dazu bewogen, das erste Mal zu einem roten Lippenstift zu greifen. Es waren die roten Lippen von Robert Smith, Sänger der britischen Postpunkband The Cure und wohl größtes Idol meiner Jugend, die meine lebenslange Liebe zu einem tiefroten Mund entfachten.

Mitte der 1980er-Jahre: Ich war gerade 13 Jahre alt und nicht nur von der Musik von The Cure, sondern gleichermaßen von ihrem Style fasziniert. Fortan trug ich ausschließlich schwarze Kleidung und toupierte meine Haare ausgiebig. Mein damaliger Freund hatte in der Innentasche seiner schweren Motorradlederjacke sogar immer eine Flasche Haarspray versteckt, die uns beide vor eventuellen „Haarunfällen“, dem Zusammenfallen der hochtoupierten Pracht, bewahrte.

Wichtig war mir auch, eine kräftige Rotnuance zu verwenden – Braun, Rosa oder Pink kamen keinesfalls infrage –, je dunkler und intensiver, desto besser.

Selbstverständlich hatte ich auch stets einen Lippenstift dabei, mit dem ich in schöner Regelmäßigkeit meinen sowieso schon karmesinroten Mund nachzog. Im Gegensatz zu meinem Idol Robert, der sich nach dem Auftragen offenkundig noch einmal über die Lippen wischte, um das Rot mehr oder weniger kunstvoll zu verschmieren, mochte ich es akkurat und zeichnete daher zunächst in akribischer Genauigkeit die Konturen mit einem Lipliner nach, bevor ich den Rest meines Mundes mit dem Lippenstift ausmalte. Wichtig war mir auch, eine kräftige Rotnuance zu verwenden – Braun, Rosa oder Pink kamen keinesfalls infrage –, je dunkler und intensiver, desto besser.

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Die Liebesgeschichte zwischen mir und meinen roten Lippenstiften währte meine gesamte Jugend und Adoleszenz, bis mir irgendwann Anfang der 2000er ein befreundeter Modefotograf in London vom Tragen des dunklen Rots auf meinem Mund abriet. Dies, so war er sich sicher, wäre gerade nicht mehr angesagt, man trüge vielmehr einen urbanen und unaufgeregten Unisex-Look und tiefrote Lippen und ein Sneaker würden einfach nicht korrespondieren. Da dieser lässige Brit-Style tatsächlich meinem damaligen Lebensgefühl entsprach, stimmte ich ihm voll und ganz zu und ließ, wieder nach Deutschland zurückgekehrt, meine Lippenstifte radikal in meiner Karnevalskiste verschwinden. Ich holte sie in den folgenden Jahren lediglich sporadisch hervor, eben zu Karneval oder wenn es der Anlass gebot und ich ein verführerisches Rot zum Beispiel mit einem kleinen Schwarzen kombinieren wollte. Bis auf diese wenigen Ausnahmen folgten also einige Jahre der Abstinenz.

Bis ich einen Gutschein für eine exklusive Parfümerie von meinen Freundinnen zum Geburtstag geschenkt bekam. Als ich wenig später den Kosmetiktempel betrat, wurde ich magisch von dem Regal mit den golden umhüllten Lippenstiften von Yves Saint Laurent angezogen. Wenige Minuten später verließ ich das Geschäft mit einem tiefen, intensiven Rot in meiner Tasche.

Seitdem passt kein Blatt Papier mehr zwischen mich und meine rote Jugendliebe – außer natürlich, als ich pandemiebedingt medizinisches Material in Form eines Mund-Nasen-Schutzes tragen musste. In regelmäßigen Abständen kommt ein neues Exemplar zu meiner Lippenstiftsammlung hinzu. Denn glücklicherweise gibt es ja nicht nur ein wunderschönes Rot, sondern „50 Shades of Red“, mindestens.