Die Tatsache, dass nahezu jeder zweite Betrieb nicht alle Lehrstellen besetzen konnte und 30.000 Betriebe noch nicht einmal eine einzige Bewerbung erhalten haben, ist ein Alarm. Allerdings haben die deutsche Wirtschaft und die Politik schon seit Jahren immer wieder die Schlummertaste gedrückt, statt die Entwicklung endlich als den Weckruf zu sehen, der er ist – und vor allem auch danach zu handeln. Sicher treiben den Negativtrend auch Faktoren, die kein Unternehmen allein beeinflussen kann. Wir erfahren immer noch einen demografischen Wandel, die Bevölkerung schrumpft und die Arbeitswelt verändert sich. Manche Berufe sterben aus, weil sie nicht mehr benötigt, andere, weil sie ganz offensichtlich nicht mehr gewollt werden, nicht von den Firmen, sondern von den Menschen, die sie ausüben sollen.
Deutschland leidet, wie viele andere Industrienationen auch, seit geraumer Zeit unter Fachkräftemangel und die Entwicklung wird schlimmer. Aber es ist doch ziemlich verkürzt, die Misere auf den mangelnden Arbeits- und Lernwillen der nachrückenden Generationen zu schieben. Bei genauerem Hinhören sind es nicht die Kinder aus der Familie, die sich so verhalten, sondern stets die der anderen. Eine konturlose Menge und Platzhalter, die einer genaueren Prüfung allein mangels Masse nicht standhalten können. Wie sollen ausbildungsunwillige Menschen statistisch erfasst werden? Wenn Betriebe leer ausgehen, liegt das unter Umständen nicht doch am Beruf und am Unternehmen selbst? Spielt nicht auch eine Rolle, gegen welche Konkurrenz ein Unternehmen sich durchsetzen muss? Fragen Sie mal nach der Beliebtheit der Schwarz Gruppe am Stammsitz in der Heilbronner Region, bei Unternehmen, die händeringend Leute suchen, oder in Stuttgart, wo Weltkonzerne wie Mercedes und Porsche die Imagestandards setzen.
Auch die Tatsache, dass Deutschland altert und immer weniger Menschen nachkommen als sterben, ist nur ein Teil der Wahrheit. Aber ein wichtiger. Der Markt hat sich gedreht und aus einem Nachfragemarkt wurde ein Angebotsmarkt. Die jungen Menschen können sich aussuchen, wo sie eine Lehre machen und wo nicht. Wenn sie es denn überhaupt wollen. Zu lange wurde die Bedeutung des dualen Systems für den Wirtschaftsstandort Deutschland nicht richtig eingeordnet und wurden bildungspolitisch Fehlanreize gesetzt. Das Studium, und wenn es nur der Bachelor ist, so hat es für mich den Anschein, wurde zum Maß aller Berufsdinge. Zu Unrecht, wie ich meine. Der Lehrberuf hat an Attraktivität nicht unbedingt verloren. Man müsste nur das angestaubte Image wegpusten und ihn sicher auch mit neuen Inhalten aufwerten. Warum nicht die Ausbildung zum Verkäufer mit Lehrbausteinen wie Social Media Management und Mikromarketing als festem Baustein ergänzen? Modedesign mit modernen Managementfertigkeiten verbinden? Was ist mit zum Beispiel mit Auslandspraktika bei Partnerbetrieben über die IHK? Das ist ein weiterer wichtiger Faktor: Der Lehrberuf ist nicht zeitgemäß, aber Inhalte und Berufsbilder müssten angepasst werden.
Und wir müssen über Geld reden, nicht nur in Form von Euro, sondern auch in Form von Arbeitszeiten und Work-Life-Balance. Die finanziellen Aussichten sind bei vielen Lehrberufen nicht die allerbesten. Warum sollte ein junger Mensch einen Beruf wählen, wo er auf wenig attraktive Arbeitsbedingungen und -inhalte trifft und auch noch recht wenig Geld verdient? Es geht nicht darum, jetzt Lehrlinge mit Geld zu überschütten, aber wenn junge Menschen eine Lehre zum Verkäufer als Weg in die selbst gewählte Armut wahrnehmen, kann etwas nicht stimmen. Wenn dann noch dazu die Ausbildungszeit als triste Dreijahresschleife gesehen wird, da das auszubildende Unternehmen den Charme eines Bauhofes ausstrahlt und so gar nichts an sich hat, was wenigstens etwas Spaß und Erfüllung verspricht, wird es eng mit dem Arbeitsnachwuchs. Es wäre schon interessant, die 30.000 Betriebe nach den genannten Punkten durchzuprüfen, um zu sehen, wie viele davon sie erfüllen. Manche Ausbildungsbetriebe müssen tatsächlich noch etwas lernen für die Ausbildung.