Anneke van Giersbergen – „Symphonized“

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„ ... stellt sie sich dem symphonischen Sturm und fliegt, schwebt, schwimmt auf den tosenden Wellen dahin.“ ©Anneke van Giersbergen
Autor: Christoph Anders

Normalerweise ist es ein durchaus lebensbereicherndes Unterfangen, einem Musikschaffenden bei seiner Entwicklung von Album zu Album, von Auftritt zu Auftritt zu folgen, gemeinsam mit ihm zu wachsen und ihm dadurch immer näher zu kommen. Ist man aber durch die Ungnade der späten Geburt, durch ignoranzimplizierte Schwerhörigkeit oder schlicht dumpfe Scheuklappigkeit gezwungen, den Schaffenskatalog rückwärts aufzuarbeiten, so kann das mindestens ebenso bereichernd sein, spannend ist es auf jeden Fall. Zumindest im Fall van Giersbergen, die ich über die von barocker Eleganz und berückender Emotionalität geprägte Verloren Verleden Cooperation mit den Isländern von Árstíðir kennen- und schlaganfallartig verehren lernen durfte. Mit ihrem jüngsten Album, dem episch-epochalen 2018er-Vollwerk „Symphonized“, hält sie – zu meinem und unserem Entdeckerglück – selbst Rückschau auf ihr künstlerisch und kreativ bewegtes Leben, allerdings unternimmt sie diese Zeitreise vor heimisch holländischem Konzertpublikum, ihr zur Seite ein komplettes Symphonieorchester, das dank der einfühlsamen Kunst zweier großartiger Arrangeure die zum Teil höchst heftigen Song-Vorgaben in eine mitreißend neue Musiksprache transferiert. Anstatt die instrumentalen Vorbilder von aggressiven Gitarren-Attacken bis hin zu progressiv-peitschender Perkussion zu imitieren, agiert der mächtigste aller Klangkörper originär als Orchester, schafft bewegende Tonbilder, rauschvolle Klangkaskaden und orgiastische Orkane, um seine unbestrittene Königin auf den wallenden Wogen himmelwärts zu tragen. Und als hätte Anneke zeitlebens nichts anderes gemacht, stellt sie sich dem symphonischen Sturm und fliegt, schwebt, schwimmt auf den tosenden Wellen dahin, lässt ihre kaum vergleichbare Stimme zwischen Annie Haslam, Ane Brun und Esther Ofarim mal zart verzaubern, mal stählern klar schillern, verführt und betört, schmeichelt und schwelgt, tanzt in wilder Romantik, treibt das dramatische Moment auf den gefühlvollen Gipfel und trägt die ungemein ohrenfreundlichen Melodien mitten in Hirn, Herz und Seele. Nebenbei gibt sie uns einen Elf-Song-Einblick in ihr bisheriges Werk, streift Soloalben, The-Gathering-Großtaten, die Gentle-Storm-Gemeinschaftsarbeit, mit „When I Am Laid In Earth“ auch das großartige Verloren-Verleden-Opus (hier in der edel-getragenen Vollorchester-Fassung) und mit zwei Vuur-Songs auch ihr jüngstes Metal-Manifest, erinnert mit strahlender Stimme und glänzend aufspielendem Orchester den Alt-Art-Rocker immer wieder an das legendäre Renaissance-Gastspiel in der Carnegie Hall und präsentiert gleich elf unwiderstehliche Gründe, uns nachhaltig auf das Giersbergen-Gesamtwerk einzulassen. Unwiderstehlich mitreißende, opulent-orchestrale Einladung zur eingehenden Werkschau.
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Anneke van Giersbergen & Árstíðir – Verloren Verleden

Auch wenn ich ihr Wirken bislang nur aus gewisser Werk-Ferne begleitete, so ist der Beitrag der Niederländerin mit der engelsgleichen Stimme zum sonst eher männerdominierten Progressive-Kosmos ein einzigartiger. Durch feste und lose Bandbeteiligungen (unter anderem The Gathering, The Gentle Storm, Vuur, um nur einige zu nennen), Collaborations und Gastbeteiligungen, seit einigen Jahren auch unter ihrem eigenen guten Namen, sorgt sie für eine ganz besondere weibliche Note im artifiziellen Rock-Feld, wobei sie auch Seitensprünge in Metal- und düstere Wave-Gefilde nicht scheut. Die vorliegende 2015er-Zusammenarbeit mit dem isländischen Progressive-Folk-Projekt aber zählt für mich zu den Sternstunden der musikalischen Grenzwanderung und -überschreitung, wird hier doch beeindruckende instrumentale wie vokale Kunst ganz in den Dienst des Liedes, genauer: des Kunstliedes, gestellt, wobei mit dieser Sammlung von zehn Gesangsstücken zeitliche wie räumliche Schranken allein mit der Kraft der Musik eingerissen werden. Mit einer vor allem in den hohen und höchsten Lagen unvergleichlich betörenden Stimme zieht Anneke, begleitet von wohlgesetztem Instrumentalhandwerk auf Gitarre, Klavier, Geige, Bratsche und Cello, durch vier Jahrhunderte des artifiziellen Liedschaffens, singt die Worte der Weisen aus Deutschland, Norwegen, Holland, Amerika, Island, England und Frankreich in den jeweiligen Herkunftssprachen und verleiht der Liedersammlung damit eine weitere, weltenverbindende Ebene. Aber es ist die einzigartige Symbiose von kunstvoll dargereichter, oft in barocken Farben gehaltener Musik und einer unvergleichlich engelhaften Stimme, die diese zutiefst berührende, von Renaissance und Barock über Romantik bis in die heutigen Tage reichende Liederkette zu einer akustischen Ausnahmesituation machen, wenn zwischen Trauer, Tragik und herzwunder Melancholie bekannte Weisen („Solveig’s Liebeslied“/Edvard Grieg, „Pavane“/Gabriel Fauré, „A Simple Song“/Leonard Bernstein) und weniger geläufige Melodien gleichermaßen tief in die Hörerseele hinabgesenkt werden, wo durch ungewohnte Harmoniewendungen sogar ein Traditional wie „Danny Boy“ wieder zu einem bleibend bewegenden Moment wird. Zu den gefühlstiefsten düsteren Glanzmomenten zählen dabei die vielstimmig a cappella vorgetragene Árstíðir-Komposition „Þér ég unni“ (100 Sekunden von finaler sakral-vokaler Schönheit), der Jean-Ferrat-Song „Het Dorp“ und Gottfried Heinrich Stölzels Barock-Ballade „Bist du bei mir“, welche für mich – gerade in dieser schmerzend schönen, unendlich verletzlichen Version – zu dem Ergreifendsten zählt, was die Musikgeschichte hervorgebracht hat. Ein herzbewegendes Hohelied auf die Kunst der gesungenen Weise, eine zeitlos-zaubrische Reise durch die Jahrhunderte, ewig berührende Musik, die verwässernde Vergleiche verbietet, schmerzhaft ergreifend, zum Weinen schön.
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Vuur – „In This Moment We Are Free – Cities“

Schon oft lockten mich gerade die düsteren Erscheinungsformen des Metal auf die Seite des brachialen Bösen, dennoch konnte ich bislang widerstehen, fehlte mir doch oft schlicht der Zugang, der kreative Katalysator, der weltenverbindend hätte wirken können. Bei dem 2017er-Vuur-Werk aber sind es Stimme, Seele und Songwriterin Anneke van Giersbergen, die auch uns Metal-Minderbemittelte mit offenen Armen empfängt und mitreißend melodiös durchs nächtliche Gewittersturm-Dunkel geleitet. Keine Frage – hier wird mit der Kraft zweier mal glasklar splitternder, meist brutal treibender, mitunter gar versponnen filigraner, stets aber meisterlich gespielter Gitarren und unbarmherzig preschend peitschendem Satt-Schlagwerk wahrer Metal von mauernschleifender Macht gehämmert, irgendwo zwischen Speed, Doom, Dark, Grind und vor allem Progressive wird kein Hehl aus der Vorliebe für harte und heftigste Klänge gemacht. Aber schon die schiere Lust am dynamischen und rhythmischen Wechselspiel lässt das alte Art-Rock-Herz schneller schlagen (im alternierenden 7/8-9/8-Takt, ungefähr), lässt auch den Stil-Ortsfremden aufhorchen. Aber es ist die alles überstrahlende Kraft und klare Schönheit der oktavenübergreifenden, wunderbar wandelbaren Stimme, die mal solistisch strahlend, zumeist aber in herrlichen, gern auch überraschend mutigen harmonischen Paar- und Chor-Läufen die Sinne erreicht, gewinnt und betört. Mal elfengleich schwebend, mal nahezu stählern rein füllt die Fürstin dieses mitreißenden mitternächtlichen Metal-Maelstroms das gewaltige/gewalttätige Klanggeschehen mit Leben, Liebe und Licht, verführt mit Melodien in zwei- und mehrstimmig leuchtender Energie, reinigt, salbt und heilt die von gnadenlosen Gitarren gerissenen Wunden. Als Metal-Grundschüler fehlen mir die Vergleiche fast völlig; um die kathartische Kraft und hymnische Herrlichkeit der so artistischen Attacken auch nur annähernd fachfreundlich zu beschreiben, um mich dieser Symbiose von Schönheit und Schaden, Sehnen und Schmerz zu nähern, muss ich uns gewohnte Klangbilder beschwören, die rückhaltlose Romantik von Eisley, die gloriosen Höhen von Evanescence, vor allem aber die mitunter so verlockend fremde Harmoniewelt und die heftigen Härten von System Of A Down, gepaart mit profunder, kunstvoll-kreativer Progressive-Rock-Erfahrung und dargereicht von einer schon nach wenigen Zusammentreffen unverkennbaren, in ähnlich einzigartigen Regionen wie Annie Haslam, Anne Wilson oder Maddy Prior strahlenden Stimme. Schon oft lockte mich der Metal – Anneke aber hat mich überwältigt.
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Van-Giersbergen-Wochen im Glitterhouse

Um unsere derzeitige Anneke-Anbetung final zu krönen, dürfen wir mit freundlichster Unterstützung von Century Media/Inside Out Music allen Bestellern der drei akut betroffenen Alben (siehe oben) eine von der Künstlerin signierte Autogrammkarte beilegen, ein Sammlerstück mittlerweile, klar, mit Geld nicht zu bezahlen. Da die derart handschriftgeschmückte Karte aus der Vuur-Phase stammt, ist die Gestaltung etwas lederlastig, aber seid gewiss: Diese Stimme hat faszinierend viele Facetten und kennt Gesänge für jeglichen Gemütszustand.