Menschen und ihre Bedürfnisse

EDITORIAL

Markus Oess, ©FT

Im August 2006 war es, da sorgten Meldungen aus Norwegen für hochgezogene Augenbrauen. „Die alternden und in jüngster Zeit oft kranken Mitglieder der Rolling Stones sollen rund um ihren Auftritt im norwegischen Bergen am Freitag von einem Geriater betreut werden“, schrieb etwa die Morgenpost und berief sich ihrerseits auf die Zeitung „Bergens Tidende“. Damals waren Charlie Watts 65, Mick Jagger 63, Keith Richards 62 und Ron Wood 59 Jahre alt. Die Altrocker zählten also zu den Senioren, für die Werber Begriffe wie Best Ager oder Silver Surfer erfunden haben, nur um nicht diesen Begriff in den Mund nehmen zu müssen. Klingt aber auch fürchterlich. Heute sind weitere 14 Jahre vergangen, aber kein Mensch dürfte nun Mick Jagger oder Keith Richards vor Augen haben, wenn er sich den typischen walbusch-Kunden in Erinnerung ruft. Auch Ralph Hürlemann, walbusch-Geschäftsführer Einkauf, will sich da nicht festlegen und definiert seinen Kunden lieber als einen, der beweglich ist, etwas vorhat – oder auch als eine, denn DOB wird für die Solinger immer wichtiger.

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Die Menschen werden nicht nur älter, sie bleiben auch immer länger fit. Sie haben Spaß am Leben und am Konsum. Verfügen Sie dann auch noch über ein gutes Einkommen, springt schnell eine attraktive Zielgruppe für Unternehmen heraus, ganz egal, wie man diese dann bezeichnet. Positiv anzumerken ist, dass es inzwischen auch Mode für Menschen mit Behinderung oder Altersgebrechen gibt, die sich eben nicht auf die Optik eines OP-Hemdchens reduziert und auch auf die Bedürfnisse ihrer Träger besser eingeht. Menschen haben auch im hohen Alter klare Vorstellungen davon, wie sie sich kleiden wollen. Jedes Kleidungsstück sei ein Stück Identität und gehöre zur persönlichen Biografie. Und eines sei besonders wichtig: Bei Pflegekleidung gehe es nicht nur um Funktion und Schutz, sondern immer auch um Diskretion und Würde, sagt Lucina Zimmermann, Inhaberin der ersten Pflegemode-Boutique in Friedrichstadt. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Menschen haben auch noch andere Bedürfnisse, die in der aktuellen COVID-19-Pandemie zu kurz kommen und bereits ausgiebig diskutiert wurden. Den Wunsch nach sozialen Kontakten und Interaktion zum Beispiel. Menschen wollen sich treffen, austauschen, berühren. Privat, aber auch beruflich, auf Messen etwa. Nach dem Lockdown schien es lange ungewiss, wann solche Massenveranstaltungen wieder möglich sind – und ob sie denn auch tatsächlich besucht werden. Sie werden, egal ob SUPREME, Gallery hier in Deutschland oder international wie die MICAM, auf der wir endlich mal auch wieder die kommenden Modetrends nachzeichnen, oder die einzige Messe auf der Iberischen Halbinsel modtissimo. Wenn der CEO der Pitti Imagine, Raffaello Napoleone, im FT-Gespräch sagt, dass physische Messen durch ihr digitales Pendant niemals ersetzt, sondern nur ergänzt werden können, hat er recht, auch wenn er da gerade von seinem angestammten Geschäftsmodell spricht. Auch das ist eine gute Nachricht, selbst wenn sich die Branche vom pandemiebedingten Absturz nur schwer erholt, sie tut es immerhin. Und nebenbei: Die Stones sind nach 2006 weiter durch die Stadien dieser Welt getingelt, ob nun ein Geriater hinter dem Vorhang auf die vier aufgepasst hat oder nicht.

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Markus Oess